Quelle: HBS
Böckler ImpulsCorporate Governance: Unternehmen bleiben Mitbestimmung treu
Es gibt keinen Trend zur Flucht aus der Mitbestimmung durch grenzüberschreitende Fusionen oder Rechtsformwechsel. Es existieren aber Gesetzeslücken, die geschlossen werden sollten.
Topmanager äußern sich in neueren Untersuchungen durchaus zufrieden mit der Unternehmensmitbestimmung. Gleichzeitig versucht eine Reihe von Beratern, den Eindruck zu erwecken, als würden deutsche Vorstandsetagen ständig die Frage wälzen, wie sie sich der Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat entziehen könnten. Und eben jene sind es, die Hilfsdienste bei der Umgehung der Mitbestimmung anbieten, haben Roland Köstler und Lasse Pütz, Experten für Unternehmensrecht in der Hans-Böckler-Stiftung, beobachtet. Das Vehikel, mit dem sich Unternehmen aus dem Geltungsbereich der Mitbestimmung absetzen sollen, ist das europäische Recht. Genauer: die Möglichkeit, das Unternehmen in eine europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, SE) umzuwandeln oder es mit einer ausländischen Gesellschaft ohne Mitbestimmung im Aufsichtsrat zu verschmelzen. „Betrachtet man indessen die Fakten, zeigt sich, dass es keinen solchen Trend gibt“, schreiben die beiden Juristen.
Europa-AGs: Langsames Wachstum. Die Zahl der operativ tätigen Gesellschaften mit wenigstens fünf Mitarbeitern, die als SE neu ins deutsche Handelsregister eingetragen wurden, lag in den vergangenen Jahren meist unter 20. Derzeit existieren lediglich 22 SEs, deren Belegschaftsgröße die Schwelle von 2.000 Beschäftigten für die 1976er-Mitbestimmung übersteigt. Gemessen an insgesamt 654 Unternehmen mit paritätisch besetztem Aufsichtsrat fallen die SEs kaum ins Gewicht, so die Mitbestimmungsexperten. Zudem ändert der Rechtsformwechsel nichts an der paritätischen Besetzung des Aufsichtsrats.
Fusionen: Keine Flucht aus Deutschland. Grenzüberschreitende Verschmelzungen von Unternehmen haben meist andere Gründe als von Mitbestimmungsskeptikern erwartet: Wie eine Untersuchung der Universität Jena im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung belegt, werden in zwei von drei Fällen ausländische Firmen in deutsche Unternehmen verschmolzen.* Lediglich 35 Prozent der transnationalen Fusionen führen zur Aufnahme eines deutschen Unternehmens in eine Gesellschaft im Ausland. Und relevant aus Mitbestimmungssicht waren nur 22 von den 381 Verschmelzungen der Jahre 2007 bis 2012. Da einige Unternehmen mehrfach an Fusionen beteiligt waren, sind insgesamt nur 17 Firmen betroffen.
„Das von Mitbestimmungskritikern verbreitete Bild von einer Flucht aus der deutschen Unternehmensmitbestimmung durch die Nutzung einer SE oder durch eine grenzüberschreitende Verschmelzung“ wird also nicht gestützt, folgern Köstler und Pütz. Trotzdem gibt es den Experten zufolge wenigstens bei der SE weiteren gesetzlichen Regelungsbedarf. Das betrifft etwa die Frage, wie und wann bei kleineren SEs über die künftige Mitbestimmung verhandelt wird, beispielsweise bei der „Aktivierung“ so genannter, zunächst nur auf dem Papier gegründeter Vorratsgesellschaften. Hier sollten die Registergerichte zudem verpflichtet werden, mitbestimmungsrelevante Entwicklungen von sich aus zu überwachen. Eine Lücke besteht den Wissenschaftlern zufolge auch beim Drittelbeteiligungsgesetz. Hier sei es für manche Holdings heute relativ leicht, die Mitbestimmung zu umgehen, weil nicht alle Mitarbeiter des Konzerns gezählt werden, wenn es um die Mitbestimmungsschwelle von 500 Arbeitnehmern geht.
Überflüssig ist nach Ansicht der Rechtsexperten hingegen ein aktuelles Projekt der europäischen Gesetzgebung: Die europäische Privatgesellschaft (SPE), analog zur deutschen GmbH als kleiner Bruder der SE geplant, sei unnötig. Denn die Praxis zeige, dass der Mittelstand sich der bereits bestehenden SE bediene.
Roland Köstler, Lasse Pütz: Neuste Fakten zur SE und zur grenzüberschreitenden Verschmelzung, in: AG-Report, Heft 12, Juni 2013.
Walter Bayer: Grenzüberschreitende Verschmelzungen im Zeitraum 2007 bis 2012, Studie für die Hans-Böckler-Stiftung, April 2013.
Irene Ehrenstein: 654 Unternehmen sind mitbestimmt, in: Mitbestimmung 6/2013.