zurück
HBS Böckler Impuls

Gesundheit: Unsicherheit macht eine schlechte Figur

Ausgabe 16/2017

In den Industrieländern sind immer mehr Menschen fettleibig. Das liegt auch an der zunehmenden wirtschaftlichen Unsicherheit.

Deutschland gewinnt an Gewicht: Laut OECD ist der Anteil der adipösen Erwachsenen allein zwischen 2000 und 2013 von 20,3 auf 23,6 Prozent gestiegen. Noch dramatischer ist die Situation in den USA, wo zuletzt mehr als ein Drittel der Bevölkerung betroffen war. Ökonomen um Trenton Smith von der neuseeländischen Universität Otago haben dafür eine Erklärung parat: Sie machen mangelnde wirtschaftliche Sicherheit für die Adipositas-Epidemie verantwortlich.

Die These der Wissenschaftler basiert auf Annahmen der Verhaltensökologie. Entwicklungsgeschichtlich sind die psychologischen und physiologischen Prozesse, die den menschlichen Energiehaushalt steuern, demnach ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen Nahrung nur unregelmäßig verfügbar war. Der Aufbau von Körperfett hatte die Funktion, den Menschen in mageren Zeiten vor dem Verhungern zu schützen. Auch wenn der Hungertod heutzutage zumindest in den Industrienationen keine reale Gefahr mehr darstellt, seien die ererbten Verhaltensmuster weiterhin wirksam, argumentieren die Forscher. Deshalb lösten ökonomisch unsichere Zeiten auch im 21. Jahrhundert unbewusst eine Verfettungsreaktion aus.

Um ihre Annahmen empirisch zu überprüfen, haben Smith und seine Kollegen US-Befragungsdaten aus den Jahren 1988 bis 2012 ausgewertet. Als adipös haben sie alle Befragten eingestuft, deren Body Mass Index den Wert 30 überschreitet. Um das Ausmaß der ökonomischen Unsicherheit zu bestimmen, wurde die Stichprobe anhand von Alter, ethnischem Hintergrund und Geschlecht in insgesamt 72 demografische Gruppen aufgeteilt. Als Unsicherheits-Indikator dient der Anteil der Gruppenmitglieder, deren Einkommen innerhalb eines Jahres um mindestens 25 Prozent gesunken ist.

Der statistischen Analyse zufolge gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Unsicherheit und Fettleibigkeit, der auch dann robust bleibt, wenn individuelle Merkmale wie Beschäftigungsstatus, Familienstand, Bildung oder Einkommen berücksichtigt werden. Wenn die Wahrscheinlichkeit, ein Viertel des Einkommens einzubüßen, um ein Prozent steigt, nimmt das Adipositas-Risiko bei Männern um 0,8 Prozent zu, bei Frauen um ein Prozent. Den Autoren zufolge können mit der verwendeten Maßzahl für Unsicherheit 50 Prozent der realen Entwicklung erklärt werden – weit mehr als mit allen anderen in der Forschung diskutierten Faktoren. Die Ergebnisse decken sich zudem mit Beobachtungen auf internationaler Ebene: Länder wie die USA, Großbritannien oder Australien, die ihre Volkswirtschaften am stärksten liberalisiert haben, weisen auch die höchsten Zuwachsraten bei der Fettleibigkeit auf.

Als Schlussfolgerung halten die Ökonomen fest, dass starkes Übergewicht und die damit verbundenen Gesundheitsprobleme unvorhergesehene Kosten von Deregulierung und von ökonomischen Krisen darstellen. Politische Programme, die auf Privatisierung, den Abbau von Arbeitnehmerrechten und Kürzungen beim Wohlfahrtsstaat hinauslaufen, dürften nicht unerheblich zur globalen Adipositas-Epidemie beigetragen haben.

  • In den Industrieländern sind immer mehr Menschen adipös. Zur Grafik

Trenton G. Smith, Steven Stillman, Stuart Craig: ,Rational Overeating‘ in a Feast-or-Famine World: Economic Insecurity and the Obesity Epidemic, IZA Discussion Paper Nr. 10954, August 2017 

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen