Quelle: HBS
Böckler ImpulsGerechtigkeit: Ungleichheit, politisch gewollt
Seit der Wiedervereinigung hat die Ungleichheit stark zugenommen. Das ist keine Folge ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, sondern das Ergebnis politischer Rahmensetzungen.
Weil die Arbeit immer anspruchsvoller wird, überbieten die Unternehmen sich gegenseitig, um gut ausgebildete Beschäftigte zu bekommen. Geringqualifizierte haben das Nachsehen und die Einkommensunterschiede nehmen zu. So erklären sich die meisten Wirtschaftswissenschaftler die Zunahme der Ungleichheit. Doch das ist wenig überzeugend, stellen Gerhard Bosch und Thorsten Kalina vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) fest. Nach ihrer Analyse kann der bereits seit den 1970er-Jahren abnehmende Umfang einfacher Arbeit nicht den gut zwei Jahrzehnte später einsetzenden Verfall der Stundenlöhne von Ungelernten erklären. Außerdem hätten die Verdienstunterschiede zwischen gleich Qualifizierten ebenfalls deutlich zugenommen, wie verschiedene Studien zeigen. Vor allem ignoriere die ökonomische Standardtheorie den Einfluss von veränderten Machtverhältnissen und Arbeitsmarktinstitutionen. Bosch und Kalina argumentieren, dass die Zunahme der Ungleichheit in erster Linie auf die Schwächung des Tarifsystems zurückgeht. Sie identifizieren sechs Faktoren, die dessen ausgleichende Funktion geschwächt haben:
- Nach 1990 gelang es nicht, das westdeutsche Tarifsystem in die neuen Länder zu übertragen.
- Dass Unternehmer im Osten dem Tarifsystem „ungestraft“ fernbleiben konnten, wurde nun zur „Blaupause“ für ganz Deutschland. Gerade kleine und mittlere Firmen aus dem Dienstleistungssektor kehrten auch im Westen dem Kollektivsystem den Rücken.
- Unternehmen lagerten einen immer größeren Teil ihrer Tätigkeiten aus, um Lohnkosten zu sparen.
- Von der EU initiierte Deregulierungen setzten viele tarifgebundene Wirtschaftsbereiche durch eine neue Billigkonkurrenz unter Druck, etwa bei der Telekommunikation, dem öffentlichen Nahverkehr oder der Müllabfuhr.
- Einen Unterbietungswettbewerb bei den Löhnen setzte auch die EU-Dienstleistungsfreiheit in Gang, besonders in der Bauwirtschaft.
- Unter starkem politischem Druck schlossen Gewerkschaften Tarifverträge mit Öffnungsklauseln ab, die wirtschaftlich schwachen Betrieben ein vorübergehendes Unterschreiten der Standards ermöglichen sollten. In der Praxis kam es dadurch vielerorts zu einer dauerhaften Absenkung der Löhne.
All dies konnte geschehen, so Bosch und Kalina, weil die Unternehmen nach dem Sieg des Kapitalismus im Systemwettbewerb „in den Verteilungskämpfen weniger politische Rücksichten auf die Stabilität des politischen Systems nehmen“ mussten. Teile der „politischen Elite, vor allem aus den großen Unternehmen“, hätten die „sozialstaatlichen Kompromisse der Nachkriegszeit“ nun schrittweise aufgekündigt.
Zur Verfestigung der gestiegenen Ungleichheit haben den Forschern zufolge auch die Hartz-Reformen beigetragen. Zwar haben sich die Einkommen schon vor 2005 auseinanderentwickelt. Aber der gestiegene Druck auf Arbeitslose, prekäre Jobs anzunehmen, ließ die Löhne am unteren Ende selbst bei guter Konjunktur weiter sinken. Hinzu kam, dass die Wirkung der staatlichen Umverteilung nachließ: Während die Steuern für Besserverdiener und Unternehmer gesenkt wurden, belasteten eine höhere Mehrwertsteuer sowie geringere Leistungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung Haushalte mit geringen Einkünften überproportional.
Dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht automatisch zunimmt und die Entwicklung der Verteilung stark von politischen Faktoren abhängt, betrachten die Wissenschaftler als ermutigend. Es bedeutet nämlich, dass die Ungleichheit „auch wirkungsvoll wieder eingedämmt werden kann“. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn sei ein Anfang gemacht.
Gerhard Bosch, Thorsten Kalina: Wachsende Ungleichheit in der Prosperität, IAQ-Forschungsbericht 3/2017