Quelle: HBS
Böckler ImpulsVerteilung: Ungleichheit kostet Wachstum
Die stark gewachsenen Einkommensdifferenzen in Deutschland haben nicht nur die soziale Spaltung hierzulande vergrößert. Sie haben auch zur Eurokrise beigetragen.
Was hat die Entwicklung der Einkommen in Deutschland mit der Arbeitslosigkeit in Südeuropa und den Kosten für die Bewältigung der Krise im Euroraum zu tun? Eine Menge, konstatieren Karl Brenke und Gert G. Wagner. Die Wissenschaftler im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) stellen in einer Untersuchung die Zusammenhänge her. Dazu analysieren sie die Wirtschaftsentwicklung des vergangenen Jahrzehnts. Ihr Fazit: Deutschland täte nicht nur „aus Gerechtigkeitsgründen, sondern auch im Interesse makroökonomischer Stabilität“ gut daran, „das Rad der Umverteilung hin zu den hohen Einkommen und Vermögen“ zurückzudrehen. Mit etwas Glück könne dies ohne große negative Rückwirkung auf die Konjunktur durch eine einmalige Vermögensabgabe geschehen.
Brenke und Wagner beginnen mit der Jahrtausendwende: Von der Krise der New Economy habe sich Deutschland lange nicht erholt. Nachdem die Technologieblase geplatzt war, blieb das Wachstum schwach. Von 2000 bis 2005 nahm das Bruttoinlandsprodukt (BIP) jahresdurchschnittlich um gerade einmal 0,6 Prozent zu. Hinter diesem Wert standen allerdings ganz unterschiedliche Trends: Während die Inlandsnachfrage schrumpfte, florierte die Exportwirtschaft schon damals. Im Schnitt wuchsen die Ausfuhren jedes Jahr um 6,3 Prozent.
Trotzdem hätte Deutschland vielen Ökonomen seinerzeit als „kranker Mann Europas“ gegolten – wegen eines angeblichen Mangels an Wettbewerbsfähigkeit, schreiben die Forscher. Die geforderte und umgesetzte Therapie hieß Lohnzurückhaltung.
Tatsächlich sei das deutsche Problem aber ein ganz anderes gewesen, so Brenke und Wagner: Um der Binnenwirtschaft wieder auf die Beine zu helfen, wäre es eigentlich nötig gewesen, die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen und Haushalte durch Zinssenkungen zu verbessern – wie es in anderen Ländern geschehen ist. Doch dem stand die frisch gegründete Währungsunion im Weg.
Die einheitlichen Euro-Leitzinsen bedeuteten in weiten Teilen des neuen Währungsraums eine finanzielle Entlastung. Für die beinahe stagnierende deutsche Wirtschaft war die reale Zinslast nach der Analyse von Brenke und Wagner aber nun zu hoch. Dies sei einer der Gründe dafür, dass es Jahre dauerte, bis das BIP-Wachstum wieder anzog.
Die Nachfrage im Inland legte erst in den Jahren 2005 bis 2008 wieder zu, die Wachstumsraten blieben allerdings deutlich hinter denen der Exportwirtschaft zurück. Selbst für den vielfachen Exportweltmeister Deutschland sei der private Verbrauch „die mit Abstand bedeutendste Nachfragekomponente“, schreiben die Wissenschaftler. Darauf entfallen aktuell 57 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Mit anderen Worten: Ob die Wirtschaft wächst oder nicht, hängt sehr stark davon ab, wie viel Geld die privaten Haushalte ausgeben. Das sei wichtiger als die ohnehin nie gefährdete preisliche Konkurrenzfähigkeit der Industrie am Weltmarkt, betonen die Wissenschaftler.
Die Gründe für die Konsumzurückhaltung der privaten Haushalte sehen Brenke und Wagner in der Entwicklung der Einkommensverteilung. Während die Gewinne der Kapitalgesellschaften – abgesehen von den Krisenjahren 2008 und 2009 – kräftig anzogen, entwickelten sich die Einkommen der privaten Haushalte nur im Schneckentempo aufwärts.
Dass die Verteilung auseinandergedriftet ist, zeigt auch ein Blick auf die Zusammensetzung der Haushaltseinkommen: Die Einkünfte aus Gewinnen und Vermögen stiegen vor allem bis zum Ausbruch der Finanzkrise steil an. Die realen Löhne und Sozialversicherungsbeiträge fielen hingegen bis 2005 und erreichten erst 2011 wieder das Niveau der Jahrtausendwende. Auch die realen Sozialleistungen sind heute nicht höher als im Jahr 2000.
Nur die Einkünfte des oberen Viertels haben laut Brenke und Wagner „merklich expandiert“, was sich aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP), einer jährlich wiederholten, repräsentativen Haushaltsbefragung des DIW, ablesen lasse. An diese Gruppe fließt fast die Hälfte aller Einkommen. Das untere Viertel hat dagegen verloren und muss sich nun mit weniger als einem Zehntel des Kuchens zufrieden geben.
Der Konjunktur hilft es nicht, wenn die ohnehin schon hohen Einkommen weiter steigen, erläutern die Berliner Experten. Denn das zusätzliche Geld wird eher gespart als ausgegeben. So kommt das obere Zehntel der Haushalte auf eine Sparquote von 17 Prozent, die unteren zehn Prozent können nur knapp 2 Prozent ihres – wesentliches geringeren – Einkommens zur Seite legen. Und selbst diese Zahlen unterschätzen die tatsächliche Ersparnis der reichen Haushalte laut Brenke und Wagner noch. Denn das Sparen in Form von Darlehenstilgung und Wiederanlage von erhaltenen Zinsen ist damit nicht erfasst.
Extreme Vermögensunterschiede sind die langfristige Folge dieser ungleichen Sparmöglichkeiten. Aus dem SOEP geht hervor, dass die untere Hälfte der Bevölkerung über gar kein nennenswertes Vermögen verfügt. Dem oberen Zehntel gehören dagegen 60 Prozent aller Bankguthaben, Wertpapierdepots und Immobilien. Dieser Wert bezieht sich auf 2007, das jüngste Jahr, zu dem bislang Daten vorliegen. 2003 war der Anteil des höchsten Zehntels noch zwei Prozentpunkte niedriger.
Die Eurokrise stehe in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Ungleichheit in Deutschland, so Brenke und Wagner. Nicht nur die hiesige Binnennachfrage bleibe hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn die im Exportgeschäft verdienten Milliarden nicht als Löhne in den Wirtschaftskreislauf zurückfließen. Weil Deutschland mangels Massenkaufkraft nicht annähernd so viel importiert wie es exportiert, entstünden ständig Außenhandelsüberschüsse, erklären die Wissenschaftler. So übertrage sich die Unwucht in der deutschen Verteilung auf die Leistungsbilanzen anderer Euroländer. Und einen automatischen Ausgleichsmechanismus über den Wechselkurs gibt es im gemeinsamen Währungsraum nicht mehr.
Deutschland lebt Brenke und Wagner zufolge „permanent unter seinen Verhältnissen“. Dadurch sei anderen Ländern die Möglichkeit versagt geblieben, genügend zu exportieren, um ihre Importe aus Deutschland zu finanzieren. Das habe wiederum deutliche Nachteile für die deutsche Wirtschaft: Sie bleibe sehr anfällig gegenüber Schwankungen der Auslandsnachfrage. Deutschland, betonen die Berliner Wissenschaftler, sei keineswegs die Wachstumslokomotive der EU. Denn ein Land, das mehr exportiert als importiert, könne „immer nur ein Trittbrettfahrer“ sein, der darauf angewiesen ist, dass seine Erzeugnisse anderswo Käufer finden.
KastenArbeitsmarkt: Konjunktur wichtiger als Strukturreform
War der unbewegliche Arbeitsmarkt an der Erwerbslosigkeit zu Beginn des neuen Jahrtausends schuld – und haben die Hartz-Reformen die anschließenden Beschäftigungszuwächse ausgelöst? Die Antwort der Berliner Forscher Karl Brenke und Gert Wagner lautet zweimal nein. Sie verweisen auf die Euro-Einführung, wegen der Deutschland länger als andere gebraucht habe, die Dotcom-Krise zu überwinden. Angeregt durch immer stärkere Auslandsnachfrage habe es schließlich mit langer Verzögerung eine gewisse Belebung des Binnenmarktes gegeben. „Die Arbeitsmarktreformen haben indes kaum nachweisbare Wirkung entfaltet; das gilt vor allem für deren Kernstück – die Hartz-IV-Reform“, so die Wissenschaftler. Entgegen den Annahmen der Reformer habe es der großen Mehrheit der Arbeitslosen nie an Motivation gefehlt, sondern an Arbeitsplätzen. An der durchschnittlichen Dauer der Arbeitslosigkeit, dem Suchverhalten und der Arbeitsbereitschaft der Erwerbslosen habe sich jedenfalls durch die Reformen nichts Grundlegendes geändert. Zudem warnen die Wirtschafts-Experten davor, die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation zu überschätzen: In Arbeitsstunden gerechnet war die Beschäftigung 2012 nur um 0,3 Prozent höher als 2000. Gesunken ist die Arbeitslosenquote vor allem, weil heute mehr Personen mit geringerer Stundenzahl arbeiten und weil demografisch bedingt die Zahl der Erwerbspersonen viel weniger als früher wächst.
Karl Brenke, Gert G. Wagner: Ungleiche Verteilung der Einkommen bremst das Wirtschaftswachstum, in: Wirtschaftsdienst 2/2013.
Brenke, Wagner 2013