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HBS Böckler Impuls

Tarifpolitik: Tarifverhandlungen: Zusammenspiel der Ebenen muss stimmen

Ausgabe 19/2006

Sind betriebliche Vereinbarungen dem Flächentarifvertrag überlegen? Professor Claus Schnabel von der Universität Erlangen-Nürnberg hat analysiert, welche Antworten die Wissenschaft gibt: Wenig deute darauf hin, so ein Fazit aus ökonomischer Perspektive, dass eine generelle Verlagerung der Tarifverhandlungen auf die Betriebsebene in Deutschland von Vorteil sein dürfte.

Der Mix aus Flächentarif, darin eingebetteten betrieblichen Vereinbarungen und Arbeitsverträgen sei "eine Stärke unseres Systems der Arbeitsbeziehungen", folgert Schnabel in seiner Studie, die einen Überblick über wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse aus zwei Jahrzehnten gibt. Die Kunst liege darin, die Stärken überbetrieblicher Tarifvereinbarungen zu bewahren:

  • niedrige Transaktionskosten wegen gebündelter Verhandlungen und standardisierten Arbeitsentgelten und -bedingungen,
  • eine bessere Kooperation und Sozialpartnerschaft auf Betriebsebene (denn die Tarifauseinandersetzung findet außerhalb des Betriebes statt) sowie
  • die gesamtwirtschaftliche Koordinierung der Lohnpolitik.

Zugleich ließen sich aber über tariflich abgesicherte betriebliche Vereinbarungen die Flexibilität und Differenzierungsmöglichkeiten sowie die Betriebsnähe der Lohnpolitik erhöhen. Wenn dies den Tarifparteien gelinge, hätte "das deutsche System der Lohnfindung eine wesentlich bessere Überlebenschance als von seinen Kritikern vermutet", so der Ökonom.

Ein in jeder Hinsicht optimales Lohnfindungssystem und eine besonders vorteilhafte Tarifverhandlungsebene lassen sich laut Schnabel beim heutigen Stand der Forschung nicht eindeutig identifizieren. Der Literaturüberblick zeige vielmehr, dass sowohl zentrale, überbetriebliche als auch dezentrale, betriebliche Regelungen verschiedene Stärken und Schwächen aufweisen, die je nach Betrieb und Branche beziehungsweise je nach einzel- oder gesamtwirtschaftlicher Sicht von unterschiedlicher Bedeutung sind.

Tarifverträge gestalten in Deutschland "gesetzesgleich die Arbeitsverhältnisse", stellt der Arbeitsmarktforscher fest: Sie prägen den Inhalt der Arbeitsverträge. Auch in Betriebsvereinbarungen darf nichts festgelegt werden, was üblicherweise in Tarifverträgen geregelt ist.

Drei Funktionen sollen Tarifverträge erfüllen:

  • eine Schutzfunktion, um Arbeitnehmer vor der Übermacht der Arbeitgeber zu bewahren;
  • eine Ordnungsfunktion, um ein einheitliches Recht zu gewährleisten - etwa um gleiche Arbeit gleich zu entlohnen und damit den Wettbewerb über Lohndumping zu verhindern;
  • eine Friedensfunktion: Während der Laufzeit von Tarifverträgen können ihre Inhalte nicht Gegenstand von Arbeitskämpfen sein.

Allerdings sind die Flächentarife stark unter Druck geraten: Immer weniger Unternehmen sind durch Verbands- oder Branchentarifverträge gebunden - und immer mehr Unternehmen, die dem Flächentarif unterworfen sind, nutzen betriebliche Öffnungsklauseln.

Das sei nicht nur damit erklärbar, dass manche Manager schon aus Prinzip die maximale Kontrolle über das Beschäftigungsverhältnis haben wollen, wie einige Forscher vermuten. Es hänge auch damit zusammen, dass sich die Rahmenbedingungen für die Unternehmen geändert haben:

So senkt der Flächentarif zwar die Transaktionskosten der Unternehmen - also die Kosten, die für die Ermittlung eines angemessenen Entgelts und für Verhandlungen mit Arbeitnehmern und ihren Vertretern entstehen. Allerdings vergleichen Unternehmen die Lohnkosten immer weniger national, sondern global - je größer die Lohnunterschiede sind, desto eher fällt der Blick über die Grenzen. Außerdem, so Schnabel, habe es eine "Abkehr von weitgehend standardisierten, fordistischen Massengütern hin zu differenzierteren Hochtechnologie-Produkten" gegeben. Entsprechend hätten sich die Arbeitsanforderungen geändert. Der Autor definiert diese als "ganzheitliche, stärker teamorientierte Arbeitsweise mit weniger Hierarchieebenen, größerer Selbstverantwortung und erweiterten Aufgabenbereichen der Mitarbeiter". In den Unternehmen wachse das Bedürfnis, ihren Beschäftigten entsprechende Leistungsanreize zu bieten.

Wie sich die Ebene der Tarifverhandlungen und -vereinbarungen auf Investitionen und Innovationen auswirkt, ist in der Literatur umstritten.

Bei dezentralen Verhandlungen - also auf der Ebene des Betriebes - sei das Investitionsklima besser, schreiben die einen: Die Entlohnung orientiert sich dann stärker an der Ertragslage des Unternehmens, Arbeitnehmer übernehmen einen Teil des unternehmensspezifischen Investitionsrisikos. Eine Medaille mit zwei Seiten: In der Anfangsphase - und wenn der Laden nicht richtig läuft - mag es der Firma gelingen, die Belegschaft zu Zugeständnissen zu bewegen. Wenn jedoch das Geschäft brummt, sitzen die Beschäftigten am längeren Hebel: Sie können Aufschläge verlangen - und auch kurzfristig durchsetzen, weil auf dem Arbeitsmarkt sonst niemand ihre Kenntnisse hat.

Allerdings haben auch zentrale Vereinbarungen - also Flächentarifverträge - positive Investitions- und Innovationswirkungen, schreiben die anderen: Branchenweit einheitliche, am Durchschnitt der Unternehmen orientierte Löhne wirken als "Produktivitäts- und Innovationspeitsche" für leistungsschwächere Betriebe. Überdurchschnittlich produktive Unternehmen erzielen so größere Erträge, die sie für neue Investitionen einsetzen können.

"Verbetrieblichung kann Betriebsklima und Produktivität belasten”

Führen angesichts dieser Gemengelage betriebliche Tarifverhandlungen tendenziell zu höheren oder zu niedrigeren Löhnen? Auch hier streiten die Gelehrten. Unstreitig ist allerdings, dass durch eine Verbetrieblichung der Tarifverhandlungen das Konfliktpotenzial im Betrieb steigt - denn sämtliche Auseinandersetzungen werden auf diese Ebene verlegt. Dies könne, so Schnabel, zu "unerwünschten Belastungen des Betriebsklimas und zu Produktivitätsrückgängen führen". Und dem Gesetzgeber stelle sich "früher oder später die Frage, ob einem Betriebsrat, der über Löhne verhandelt, nicht auch ein Streikrecht zustehen sollte".

Ähnlich ambivalent werden betriebliche Öffnungsklauseln bewertet: Die Existenz dieser Klauseln mag auf der einen Seite die Verhandlungsposition der Gewerkschaften stärken, referiert Schnabel. Denn sie müssten keine Rücksicht mehr auf schwächere Betriebe nehmen - die könnten ja Öffnungsklauseln nutzen. Doch geringere Löhne und längere Arbeitszeiten in einigen Unternehmen können Dominoeffekte bei anderen Firmen auslösen und somit insgesamt zum Absinken des Tarifniveaus führen. Bei den Betriebsräten überwiegt denn auch die Skepsis: So ergab die WSI-Betriebs- und Personalrätebefragung 2004/2005, dass nur 12 Prozent unter ihnen eine Dezentralisierung und Verbetrieblichung der Tarifpolitik begrüßen. 30 Prozent sehen sie zwiespältig, 53 Prozent betrachten sie als generell problematisch.

Im internationalen Vergleich ist jedoch ein Ergebnis eindeutig: Je mehr das Tarifgeschehen in die Betriebe verlagert wird, desto geringer ist der Anteil der Beschäftigten, die überhaupt von Tarifverträgen erfasst werden.

Es gibt mehr gültige Flächentarifverträge als Haustarife. Zur Grafik
Flächentraifverträge haben in Ostdeutschland eine geringere Reichweite als im Westen. Zur Grafik
Die Vergütung und die Arbeitsbedingungen der meisten Beschäftigten werden per Tarifvertrag geregelt - und wo das nicht der Fall ist, da strahlen Tarifregelungen aus. Zur Grafik

Claus Schnabel: Verbetrieblichung der Lohnfindung und der Festlegung von Arbeitsbedingungen, Hans-Böckler-Stiftung, Arbeitspapier 118, Februar 2006
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