Quelle: HBS
Böckler ImpulsSaisonarbeitskräfte: Systemrelevant, aber schutzlos
Die Coronakrise hat die Ausbeutung von ausländischen Erntehelferinnen und -helfern verstärkt. Staatliche Maßnahmen haben daran einen großen Anteil.
Die Arbeitsbedingungen für Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft sind schon seit langem prekär. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation weiter verschlechtert. Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren noch stärker isoliert als zuvor, mussten mehr arbeiten und wurden schlechter bezahlt. Gleichzeitig haben die Aufsichtsbehörden weniger genau hingeschaut. Die Möglichkeiten der Gewerkschaften, sich um die Beschäftigten zu kümmern, waren eingeschränkt. Das zeigt eine Analyse von Vladimir Bogoeski von der Universität Amsterdam in der Fachzeitschrift Soziales Recht, die vom HSI herausgegeben wird. Grundlage waren Interviews mit Expertinnen und Experten gewerkschaftsnaher Beratungsstellen. Sie sind für Saisonarbeitskräfte mitunter die erste Anlaufstelle in Deutschland.
Die Landwirtschaft ist auf Saisonarbeitskräfte vor allem aus den östlichen EU-Mitgliedstaaten angewiesen. Bis zu 300 000 kommen jedes Jahr nach Deutschland. Ohne sie wäre die Ernte – vom Spargelstechen über die Erdbeerernte bis zur Weinlese – nicht zu stemmen. Als zu Beginn der Pandemie die Einreiseverbote in Kraft traten, drohten massive Personalengpässe und Ernteausfälle. Die Landwirtschaft wurde daraufhin zur „kritischen Infrastruktur“ und die Saisonarbeitskräfte für „systemrelevant“ erklärt. Zehntausende Erntehelferinnen und -helfer wurden eingeflogen.
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Gerade die Einstufung als „systemrelevant“ habe den Arbeiterinnen und Arbeitern zahlreiche Nachteile gebracht und bereits bestehende Probleme verschärft, schreibt Bogoeski. Ihr Sonderstatus sei missbraucht worden, um sie länger ohne Sozialversicherung auf deutschen Feldern arbeiten zu lassen. Da Saisonarbeitskräfte in Deutschland zum damaligen Zeitpunkt überwiegend nicht versichert waren und die meisten auch in ihren Herkunftsländern in kein Sozial- oder Krankenversicherungssystem eingebunden waren, blieben sie im Krankheitsfall weitgehend schutzlos. Die Beratungsstellen berichteten von Fällen, in denen Erkrankte nicht ins Krankenhaus gebracht, sondern lediglich in Unterkünften isoliert wurden. „Ihre ‚Systemrelevanz‘ hat den Arbeiterinnen und Arbeitern letztlich nicht dazu verholfen, Schutz durch den deutschen Wohlfahrtsstaat zu erlangen. Ganz im Gegenteil“, so der Wissenschaftler.
Die staatlichen Maßnahmen zur Verhinderung von Covid-Infektionen, wie Abstandsregelungen, Quarantäne oder Mobilitätsbeschränkungen, haben die Saisonarbeitskräfte von Bezugspersonen getrennt und noch abhängiger von ihren Arbeitgebern gemacht als zuvor. Eine Beraterin berichtet: „Die Pandemie hat die Probleme verschärft und ans Licht gebracht. Die Menschen hatten Angst, in Deutschland zu bleiben oder zu erkranken. Die Heimreise war wegen der Kontrollen und Grenzschließungen nicht mehr jederzeit möglich, aber auch weil Landwirte Personalausweise einbehalten haben.“
Für Gewerkschaften und Beratungsstellen war es schwieriger, Zugang zu Betrieben und Unterkünften zu erhalten, da Arbeitgeber die neuen Sicherheits- und Abstandsregelungen nutzten, um den Kontakt zu den Beschäftigten zu unterbinden. Die Beratungsstellen berichteten außerdem, dass die Überwachung durch die Behörden während der Pandemie noch lückenhafter wurde. Die Abschottung der Arbeitskräfte sowohl innerhalb der Betriebe als auch nach außen habe dazu geführt, „dass ausbeuterische Praktiken, die bereits vor der Pandemie fest etabliert waren, in der Pandemie noch seltener entdeckt, gemeldet oder von Arbeiterinnen und Arbeitern, Gewerkschaften und den zuständigen Aufsichts- und Vollzugsbehörden adressiert werden konnten“, so Bogoeski.
„Erntehelferinnen und Erntehelfer leisten Schwerstarbeit auf den Feldern und sorgen so für die verlässliche Versorgung mit Lebensmitteln. Dass sie systemrelevant sind, darf auch nach der Pandemie nicht in Vergessenheit geraten. Trotz einiger Verbesserungen ist die Situation weiterhin unbefriedigend“, erklärt Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des HSI. Aus den gewerkschaftlichen Beratungen werde immer wieder davon berichtet, dass Unternehmen den Mindestlohn umgehen, grundlegende Arbeitszeitregelungen missachten und überhöhte Leistungsvorgaben machen. Auch der rechtliche Status der Saisonarbeitskräfte sei nach wie vor mangelhaft: „Um würdige Arbeitsbedingungen zu erreichen – ein Gebot, das sich nicht zuletzt aus dem Grundgesetz ergibt –, müssen die Beschäftigten in das deutsche Arbeitsrecht und in die Sozialversicherungssysteme eingebunden werden.“
Vladimir Bogoeski: Kontinuitäten der Ausbeutung: Migrantische Saisonarbeiter*innen in der deutschen Landwirtschaft während der COVID-19-Pandemie, Soziales Recht 2/2024