Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitsbedingungen: Systematisch überfordert
Neue Management-Methoden sollen den Beschäftigten mehr Freiheiten am Arbeitsplatz bringen. Doch die Praxis des neuen Arbeitens sieht meist anders aus: Unrealistische Ziele und striktes Controlling sorgen vor allem für Stress und Leistungsdruck.
Die Arbeitsorganisation vieler Betriebe hat sich in den vergangenen Jahren verändert, zahlreiche Beschäftigte erhalten formal mehr Freiheiten. Zugleich klagt ein wachsender Teil der Belegschaften über psychische Belastungen. Zwischen diesen beiden Trends besteht ein Zusammenhang, das belegt eine Studie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung München (ISF München). Die Wissenschaftler haben über 100 Beschäftigte, Führungskräfte und Experten befragt - und kommen zum Schluss, dass die wachsenden seelischen Lasten eine Folge neuer Managementmethoden sind.
Es könne zwar theoretisch zu mehr Zufriedenheit führen, wenn das Management den Beschäftigten bei der Erfüllung von Zielen freie Hand lässt, schreiben die Forscher. Doch in der Praxis stand in den untersuchten Betrieben nicht genug Personal und Zeit zur Verfügung, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Zudem konterkariere die zunehmende Standardisierung von Arbeitsschritten und starke Kontrolle der Abläufe die angeordnete Selbststeuerung.
Die Belegschaften fühlten sich darum häufig überfordert und belastet. Nick Kratzer, Wolfgang Dunkel und Wolfgang Menz vom ISF beschreiben, wie sich drei zentrale Merkmale der neuen Arbeitsgestaltung auswirken.
Ergebnisorientierung. "In den Unternehmen findet gegenwärtig ein Paradigmenwechsel in der betrieblichen Leistungssteuerung statt", beobachten die Arbeitswissenschaftler. Die Planung gehe nicht mehr von den gegebenen Kapazitäten aus, stattdessen werde zuerst das zu erreichende Ergebnis festgelegt. Die Zahl der neu zu gewinnenden Kunden oder die pauschalen Rendite- und Umsatzziele orientieren sich nicht am praktisch Machbaren, sondern am theoretisch Denkbaren, so die Studie. Das gewünschte Ergebnis wird auf der Führungsebene beschlossen und nach unten weitergereicht. Ein ausgefeiltes Controlling macht sichtbar, wer die Ziele nicht erreicht. Der ständige Blick auf die Zahlen sei "ein reines Knechtinstrument", sagt ein Befragter. Ein anderer berichtet: Wenn er die ehrgeizigen Vorgaben nicht schaffe, aber zwei oder drei der Kollegen dazu imstande seien, dann setze ihm das stark zu.
Die vorgegebenen Ziele enthalten oft Steigerungsraten. "Es muss jedes Jahr besser, mehr, schneller werden", beschreibt das Forscherteam. Die Beschäftigten würden systematisch und absichtlich überfordert, und das nicht nur in einzelnen Unternehmen. Arbeiten solle "herausfordernd" sein, erklären die Manager. Ein Beschäftigter berichtet: "Ich höre jedes Jahr von den Führungskräften den Satz: Wir legen noch eine Schippe drauf. Und das Merkwürdige ist: Wir schaffen das jeweils." Mit der Konsequenz, "dass sich die Spirale weiterdreht und wir am Ende des Jahre wieder hören, dass wir noch eine Schippe drauflegen sollen, obwohl wir eigentlich schon am Limit arbeiten".
Die permanente Reorganisation der Unternehmen macht den Beschäftigten ebenfalls zu schaffen. Unrentable Bereiche werden verkleinert, ausgelagert, geschlossen, ganze Betriebsteile ein- oder ausgegliedert, Abteilungen getrennt oder zusammengelegt. Die Betriebe werden fortwährend überprüft und umgebaut, sofern eine Kennzahl nicht den Erwartungen entspricht. Für die Beschäftigten bedeutet das permanente Unsicherheit. Sie müssen sich immer neu anpassen und mit der Sorge leben, dass die Restrukturierung ihren Arbeitsplatz kostet, so die Forscher. Die Reorganisation verlangt zudem oft Zusatzarbeit. Und sie bietet einen Anlass, die Personaldecke auszudünnen, so dass am Ende mehr Arbeit für die Rest-Belegschaft bleibt.
Selbststeuerung und Standardisierung. Die Beschäftigten sind in der Praxis mit widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert. So werden die Angestellten eines Finanzdienstleisters einerseits aufgefordert, Kunden möglichst individuell zu beraten, andererseits dürfen sie ihnen aber nur standardisierte Produkte verkaufen. Schematisch normierte Prozesse, Produkte und Instrumente schränken die vermeintliche Freiheit wieder ein. Sie bieten den Beschäftigten kaum Entlastung, stellen die Wissenschaftler fest. Eher sei das Gegenteil der Fall, weil das Controlling nur die standardisierten Arbeitsschritte aufnimmt. Die Arbeitsorganisation selbst werde dadurch als Last empfunden, erläutern die Wissenschaftler vom ISF. Das Institut nimmt gemeinsam mit dem WSI an dem Forschungsprojekt "Partizipatives Gesundheitsmanagement" (PARGEMA) teil.
Nick Kratzer, Wolfgang Dunkel, Wolfgang Menz: Neue Managementmethoden - neue Belastungsformen?, in: Arbeit, Beschäftigungsfähigkeit und Produktivität im 21. Jahrhundert. Bericht zum 55. Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft 2009, Dortmund
mehr Infos zum Forschungsprojekt Pargema