Quelle: HBS
Böckler ImpulsEnergieversorgung: Strompreis: Marktversagen trifft Arme
Die Strompreise eilen der allgemeinen Inflation seit Jahren voraus - auch ohne Energiewende. Das trifft besonders Hartz-IV-Haushalte und ist die Folge einer gescheiterten Liberalisierungsstrategie.
Wenige große Anbieter beherrschen den Strommarkt, der Wettbewerb hält sich in Grenzen. So steigt der Strompreis für Privathaushalte deutlich schneller als andere Preise. In der jüngsten Vergangenheit gab es zu Jahresanfang meist einen kräftigen Sprung nach oben, hat Rudolf Martens beobachtet. Der Leiter der Forschungsstelle des Paritätischen Wohlfahrtsverbands macht darauf aufmerksam, dass dies „insbesondere Niedrigeinkommensbezieher“ und Haushalte trifft, „die Regelsatzleistungen erhalten“, also von Grundsicherung oder Sozialhilfe leben müssen. Nach Martens’ Kalkulation haben höhere Stromrechnungen etwa die Hälfte der Regelsatzerhöhung von 2011 „aufgefressen“. Um Preissteigerungen bei allen übrigen Gütern und Dienstleistungen auszugleichen, bleiben Hartz-IV-Empfängern und allen anderen Empfängern von Regelsatz-Leistungen damit gerade einmal fünf Euro.
Weil die überproportionalen Strompreiserhöhungen bei der Anpassung der Regelsätze nicht zeitnah berücksichtigt werden, fehlen den Haushalten je nach Größe und Zusammensetzung zwischen 60 und 160 Euro im Jahr, hat Martens ausgerechnet: „Diese Differenz können sie nur ausgleichen, indem sie bei anderen Ausgabenpositionen weniger ausgeben, als ihnen zur Existenzsicherung zugestanden wird.“ Und auch kleinere Beträge spielen für Haushalte, die am Existenzminimum leben, eine wichtige Rolle – was sich daran zeigt, dass nach Martens’ Schätzungen im vergangenen Jahr bundesweit rund 200.000 Hartz-IV-Haushalten der Strom abgestellt wurde.
Selbst wenn man die jüngsten Preissteigerungen außen vor lässt und mit dem Strompreis von 2008 rechnet, dem Jahr, aus dem auch die statistische Grundlage zur Ermittlung des Regelsatzes stammt, wird Martens zufolge deutlich: Hartz-IV- und alle weiteren Regelsatz-Empfänger bekommen unrealistisch wenig Geld für Strom. Gemessen am Durchschnittsverbrauch des jeweiligen Haushaltstyps müssten Paarhaushalte, die Grundsicherung beziehen, etwa 20 Prozent weniger Strom verbrauchen, damit der im Regelsatz vorgesehene Betrag ausreicht. Strom zu sparen sei aber gerade für Haushalte mit niedrigem Einkommen schwierig, betont der Wissenschaftler. Denn ihnen fehlen die Mittel, um neue, energieeffiziente Geräte zu kaufen.
Warum die Strompreise seit 2001, also lange vor der Energiewende, überhaupt so stark zugelegt haben, haben Heinz Bontrup und Ralf Marquardt vom Energieinstitut an der Westfälischen Hochschule in Recklinghausen untersucht. In einer Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung stellen die Wirtschaftsprofessoren fest, dass der teure Strom nicht in erster Linie auf verteuerte Energieträger zurückzuführen sei und erst recht nicht durch Lohnsteigerungen in der Energiebranche erklärt werden könne. Denn dann hätten die jährlichen Gewinne der Stromindustrie von 2001 bis 2008 nicht von 4 auf 21 Milliarden Euro steigen können.
Dass die Konzerne so hohe und zumeist nicht einmal für Sachinvestitionen genutzte Gewinne einfahren konnten, liegt den Energie-Experten zufolge an schwerwiegenden politischen Fehlern bei der Liberalisierung der Stromwirtschaft: „Deutschland öffnete als eines der ersten EU-Länder die Energiemärkte, beschritt dabei aber den ,deutschen Sonderweg‘, indem es lange Zeit als einziges Land auf eine Regulierungsbehörde verzichtete.“ Stattdessen habe die Politik auf „Selbstregulierung“ gesetzt und den Big Four E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW damit Gelegenheit gegeben, ihre Marktmacht auszubauen.
Nach verschiedenen Anläufen, die ursprünglichen Fehler zu korrigieren, existiert zur Bekämpfung des Marktversagens heute ein komplexes Regulierungssystem, das mit den ursprünglich angestrebten „marktwirtschaftlichen Regelmechanismen nur noch wenig gemein hat“, konstatieren Bontrup und Marquardt. Auf der Ebene der Stadtwerke sei in jüngster Zeit eine Tendenz zur Rekommunalisierung auszumachen, in der sich der Wunsch der Bürger nach mehr Einfluss auf die Erzeugung lebenswichtiger Basisgüter wie Strom ausdrücke. Die Forscher plädieren dafür, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Für die Bewältigung der Energiewende müsse ein Modell gefunden werden, das besser funktioniere als die gescheiterte Deregulierung. Mitarbeiter, Verbraucher- und Umweltverbände sollten dabei mehr Mitspracherechte bekommen, so die Energie-Experten.
Rudolf Martens: Entwicklung der Strompreise und der Stromkosten im Regelsatz, in: Soziale Sicherheit 6/2012
Heinz-J. Bontrup, Ralf-M. Marquardt: Chancen und Risiken der Energiewende, Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung 252, März 2012