Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitsrecht: Streiks: Verfassungswidrige Einschränkung
Wenn die Produktion wegen bestreikter Zulieferer ruht, haben Beschäftigte unter bestimmten Umständen keinen Anspruch auf Lohnersatz. Eine Expertengruppe hält das für verfassungswidrig.
Wenn die Produktion wegen bestreikter Zulieferer ruht, haben Beschäftigte unter bestimmten Umständen keinen Anspruch auf Lohnersatz. Eine Expertengruppe hält das für verfassungswidrig.
Bei Arbeitskämpfen stehen sich Arbeitgeber und Gewerkschaften gegenüber. Auswirken können sich Streiks aber auch auf Bahnkunden, Kita-Eltern – oder auf andere Betriebe, deren Zulieferer oder Abnehmer ausfallen. Solange die Produktion dort stillsteht, erhalten die Beschäftigten keinen Lohn, können aber Kurzarbeitergeld über die Bundesagentur für Arbeit beziehen. Es sei denn, sie können voraussichtlich vom umkämpften Tarifvertrag profitieren, weil der auch für ihren Betrieb gelten wird. Dann entfällt der Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Das gilt laut Sozialgesetzbuch selbst dann, wenn die Beschäftigten nur mittelbar profitieren, weil ihr Arbeitgeber zwar nicht demselben Tarifbezirk, aber derselben Branche angehört und den Abschluss voraussichtlich übernehmen wird.
Die Rechtswissenschaftlerinnen Eva Kocher und Laura Krüger von der Universität Frankfurt (Oder) haben gemeinsam mit den Sozialwissenschaftlern Jürgen Kädtler und Ulrich Voskamp vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen untersucht, ob diese Regelung noch verfassungsgemäß ist. Gefördert wurde ihr Gutachten von der Hans-Böckler-Stiftung und dem Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht. Das Forschungsteam kommt zu dem Ergebnis, dass die umstrittene Vorschrift unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Eingeführt wurde sie 1986 mit der Begründung, dass der Staat nicht in Arbeitskämpfe eingreifen und so das Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifparteien stören dürfe. Wenn „kalt ausgesperrte“ Beschäftigte Kurzarbeitergeld erhalten, könnten die Gewerkschaften durch „Fernwirkungen“ von Streiks zusätzlichen Druck aufbauen, ohne ihre Streikkasse zu belasten. Das Bundesverfassungsgericht, bei dem die IG Metall Beschwerde eingelegt hatte, ließ diese Begründung gelten. Die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaft sei nach wie vor gegeben. Allerdings wies das Gericht in seinem Urteil vom Juli 1995 ausdrücklich darauf hin, dass dies „noch“ und „jedenfalls derzeit“ der Fall sei, konstatiert das Gutachten.
Die Forscher haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Annahmen des Verfassungsgerichts im Hinblick auf die Automobilwirtschaft heutzutage noch plausibel sind. Denn die Arbeitswelt habe sich seit dem Urteil grundlegend verändert. Insbesondere in der Automobilbranche habe die Vernetzung der Betriebe „exponentiell“ zugenommen. Ein Grund: Autos werden technisch immer komplexer, sodass die Endhersteller immer mehr Elektronik von Zulieferern beziehen. Zugleich habe der Übergang zur lagerlosen Belieferung die Abhängigkeiten erhöht. Früher hätten die Lagerbestände für eine ganze Woche gereicht, heute könnten drei Stunden Streik beim Zulieferer die Produktion zum Erliegen bringen. Ein Arbeitskampf ohne Fernwirkungen sei mittlerweile undenkbar, so die Experten. Das schränkt den Handlungsspielraum der IG Metall erheblich ein: Praktikabel seien eigentlich nur Warnstreiks, während langfristige Erzwingungsstreiks unkalkulierbare Folgen hätten.
Die Handlungsspielräume der Arbeitgeberseite sind dagegen größer geworden: Die Globalisierung habe den Automobilkonzernen die Möglichkeit eröffnet, Standortverlagerungen als „überaus wirksame Drohung“ ins Spiel zu bringen. Zudem habe die Zunahme atypischer Beschäftigung die Kräfteverhältnisse zuungunsten der Beschäftigten verändert. Insbesondere Leiharbeiter oder Werkvertragsbeschäftigte könnten zum Streikbruch eingesetzt werden. Teilweise könne trotz eines Arbeitskampfes der gesamte Betrieb aufrechterhalten werden.
Alles in allem kommt die Studie zu dem Schluss, dass die untersuchte Vorschrift aktuell verfassungswidrig erscheint. Um auch konfliktreiche Themen zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen zu können, müssten Gewerkschaften mit längeren Streiks zumindest glaubwürdig drohen können. Das sei angesichts der intensiven Vernetzung in der Automobilbranche ohne unkontrollierbare Fernwirkungen nicht mehr möglich. Solange die verfassungswidrige Regelung fortbesteht, sollte der Gesetzgeber zudem den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen für den Streikbruch bekämpfen. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass auch Warnstreiks zu einem untauglichen Instrument im Arbeitskampf werden.
Eva Kocher, Jürgen Kädtler, Ulrich Voskamp, Laura Krüger: Noch verfassungsgemäß? Fernwirkungen bei Arbeitskämpfen in der Automobilindustrie und die Verfassungsmäßigkeit des § 160 Abs. 3 SGB III, HSI-Schriftenreihe Band 19, Bund-Verlag, Frankfurt a. M., 2017
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