Quelle: HBS
Böckler ImpulsTarifsystem: Strategien der Klein-Gewerkschaften
Kleine, starke Berufsgewerkschaften streben danach, für ihre Mitglieder bessere Tarife herauszuholen. Eine Gefahr für das Tarifsystem? Nein, sagen die Experten des WSI: Die Zahl dieser Gewerkschaften wird gering bleiben.
Ärztestreik, Bahnkonflikt und Postmindestlohn - Berufsgewerkschaften haben in den vergangenen Jahren große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Weniger auffällig sind die so genannten christlichen Gewerkschaften, doch auch sie fordern die exklusive Gültigkeit von bestehenden Tarifverträgen heraus. Welchen Effekt diese Konkurrenz zu den etablierten Arbeitnehmervertretern auf das Tarifwesen haben kann, analysieren Reinhard Bispinck und Heiner Dribbusch vom WSI. Den Tarifexperten zufolge ist nicht damit zu rechnen, dass noch viele weitere Berufsgewerkschaften auftreten und für ihre Gruppe bessere Tarife aushandeln - dafür sind die organisatorischen Hürden zu hoch. Gefahren für das Tarifgefüge verursachen laut Bispinck und Dribbusch eher die Gewerkschaften ohne Durchsetzungskraft.
Überbietungskonkurrenz. DGB-Gewerkschaften schließen nach wie vor deutlich mehr als 80 Prozent der Tarifverträge ab. Mehrere Berufs- und Spartengewerkschaften hoffen jedoch, allein bessere Ergebnisse erzielen zu können. Die Durchsetzung eigener Tarifverträge erfordert die Fähigkeit zum Arbeitskampf, darum ist die Zahl der tariffähigen Berufsgewerkschaften tatsächlich sehr klein. "Es ist keineswegs einfach, in den kleinen Kreis der durchsetzungsfähigen Konkurrenzgewerkschaften aufzusteigen", stellen die Forscher fest. Voraussetzungen seien eine geschlossene Berufsgruppe, ein klar umrissenes Tarifgebiet und eine handlungsfähige Organisation mit hohem Organisationsgrad. Ihre Streikfähigkeit unter Beweis gestellt haben bisher lediglich die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Vereinigung Cockpit sowie die Lokführergewerkschaft GDL. Eigene Tarifverträge wurden auch der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF) sowie bei einzelnen Linien der Unabhängigen Flugbegleiterorganisation (UFO) für das Kabinenpersonal zugestanden. Die Berufsgewerkschaft sei keineswegs ein generelles Erfolgsmodell, erklären die Wissenschaftler. So verstünden sich die meisten der mehreren hundert Berufsverbände aus guten Gründen bisher nicht als Gewerkschaft, verzichteten auf ein tarifpolitisches Eingreifen und beschränkten sich auf Beratungs- und Lobbyarbeit.
"Mit einer Vielzahl neuer Gewerkschaften ist auf absehbare Zeit deshalb nicht zu rechnen", prognostizieren Bispinck und Dribbusch. Die beiden Forscher werten die Aufkündigung der Solidarität gegenüber der Gesamtbelegschaft als problematisch. Aber sie stellen zugleich fest: "Das tarifpolitische Signal, das von diesen Abschlüssen ausgeht, geht nicht in Richtung Unterbietung. Die Erosion von Tarifstandards nach unten wird eher erschwert." Ob auf Dauer die Überbietungskonkurrenz für die betroffenen Beschäftigtengruppen tatsächlich zu besseren Ergebnissen führt, ist durchaus strittig, bisherige Abschlüsse zeigten keinen klaren Trend.
Unterbietungskonkurrenz: Das Unterbieten bestehender Tarifnormen durch Kleingewerkschaften ohne tarifpolitische Durchsetzungskraft schade den Beschäftigten, konstatieren die Wissenschaftler. Dazu zählen sie in erster Linie die mitgliedsorganisationen des Christlichen Gewerkschaftsbundes (CGB). Sie hätten kaum Mitglieder, aber sie profitieren davon, dass die Arbeitgeber zwar Überbietungskonkurrenz ablehnen, die Unterbietung von Tarifverträgen jedoch aktiv fördern. "Ihre Erfolge gründen in einem veränderten Verhalten vieler Arbeitgeber, die in einigen Wirtschaftszweigen und Regionen die CGB-Gewerkschaften bewusst zu anerkannten Tarifparteien gemacht haben, um bestehende tarifliche Standards zu umgehen oder zu unterlaufen", erklären die Experten des WSI. Dies galt bisher insbesondere für das Handwerk, wo mittels der CGB-Gewerkschaften eine verdeckte Form von Tarifflucht stattfinde. Andere wichtige Bereiche, in denen Unternehmen mithilfe der Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften schlechtere Arbeitsbedingungen oder Vergütungen durchsetzten, sind neben der Zeitarbeit die Volks- und Raiffeisenbanken sowie das Deutsche Rote Kreuz.
Bei den Postdiensten bestehe sogar der Verdacht, dass interessierte Unternehmen die nicht zum CGB gehörige Gewerkschaft der Neuen Brief- und Zustelldienste (GNBZ) gleich mitgegründet haben. Nur in der Industrie haben Konkurrenz-Gewerkschaften bislang nicht Fuß gefasst, so die Analyse.
Reinhard Bispinck, Heiner Dribbusch: Tarifkonkurrenz der Gewerkschaften zwischen Über- und Unterbietung, in: Sozialer Fortschritt, Heft 6, Juni 2008