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Standards in der Fleischindustrie erhöhen Böckler Impuls

Arbeitsbedingungen: Standards in der Fleischindustrie erhöhen

Ausgabe 12/2020

Schon vor Corona waren die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie problematisch. Die Zustände in der Branche müssen dringend verbessert werden. Regelungen müssen über freiwillige Selbstvereinbarungen hinausgehen und verpflichtend gelten.

Mehr als 1400 Mitarbeiter bei Tönnies in Ostwestfalen haben sich mit dem Coronavirus infiziert. Dieser Fall und auch die Ausbrüche in anderen Schlachthöfen zeigen: In der Branche läuft etwas schief. Was seit langem bekannt ist: Viele Mitarbeiter in der Fleischwirtschaft werden zu Bedingungen beschäftigt und untergebracht, die inakzeptabel sind. Die Arbeitgeber müssen hierfür die Verantwortung übernehmen. „Die Branche steht unter Druck, möglichst billig zu produzieren. Nicht selten sind die Leittragenden die Arbeitnehmer, Tiere und auch die Verbraucher", erklärt Oliver Emons von Hans-Böckler-Stiftung. Der Experte für Unternehmensführung und Mitbestimmung ist Koordinator des „Branchenmo­nitors Schlachten und Fleischverarbeitung“, in dem der Autor Stefan Stracke den Zustand der Branche beleuchtet. Die Analyse ist bereits vor der Coronakrise entstanden, sie basiert auf Zahlen von 2018.

Zur deutschen Fleischwirtschaft zählen fast 1500 Betriebe mit mehr als 20 Beschäftigen, darunter rund 380 Schlachtbetriebe und 1070 Betriebe der Fleischverarbeitung. Sie erzielen zusammen einen Umsatz von 42,5 Milliarden Euro, davon rund 80 Prozent im Inland. Mit einem Anteil von 22 Prozent ist die Branche der umsatzstärkste Bereich der Nahrungs- und Genussmittelindustrie in Deutschland. Trotz hoher Umsätze sei die Geschäftslage seit einigen Jahren „verhalten“, heißt es in der Analyse. Zum einen essen die Deutschen weniger Fleisch- und Wurstwaren. Zum anderen seien die Produkte „wenig differenziert“. Der Einzel­handel sei aufgrund seiner großen Verhandlungsmacht in der Lage, die Preise zu drücken. Vor allem kleinen und mittleren Schlacht- und ­Verarbeitungsbetrieben falle­ es in dem hart umkämpften Markt schwer, höhere Kosten weiterzugeben. Das Ergebnis: Die Betriebe suchen „nach Optimierungsmöglichkeiten in einer tendenziell ertragsschwachen Branche“, so Stracke. Von enormer Bedeutung sei die Erschließung neuer Exportmärkte.

Vor allem die Schweineschlachtung wird von wenigen Großbetrieben dominiert. Die zehn größten Unternehmen in diesem Bereich kommen bezogen auf die Menge auf einen Marktanteil von fast 80 Prozent in Deutschland. Das mit Abstand größte deutsche Fleischunternehmen ist die Tönnies-Gruppe mit circa 16 500 Mitarbeitern, davon 6000 in Rheda-Wiedenbrück. Tönnies schlachtet hierzulande mehr als 16 Millionen Schweine im Jahr, was knapp 30 Prozent aller in der Bundesrepublik zerlegten Schweine entspricht. Hinzu kommen 440 000 Rinder. Der weltweite Umsatz der Unternehmensgruppe beträgt 6,65 Milliarden Euro. Dahinter folgten Vion Food Germany mit mehr als 7000 Beschäftigten in Deutschland und einem Umsatz von 2,9 Milliarden Euro sowie Westfleisch mit knapp 4000 Beschäftigten und 2,6 Milliarden Euro Umsatz.

In den knapp 1500 Betrieben der Fleischindustrie sind laut Statistischem Bundesamt rund 124 000 Mitarbeiter tätig, davon mehr als 38 000 im Schlachtbereich. Präzise Zahlen zur Beschäftigung seien aufgrund der Arbeitsverhältnisse sowie der hohen Fluktuation der Beschäftigten schwierig zu erheben, schreibt Stracke. Viele seien nicht beim Schlachthof angestellt, sondern bei einem Personaldienstleister, Werkvertragsnehmer oder Subunternehmer. „Werkverträge werden in einigen Fällen nach wie vor missbräuchlich eingesetzt, um Tarif- und Sozialstandards zu unterlaufen“, erklärt der Experte. Die Aufwendungen der Betriebe für Leiharbeit hätten sich zwischen 2008 und 2017 mehr als verdoppelt. Bis auf Westfleisch und Goldschmaus beschäftigten die großen Schlachtbetriebe zum Zeitpunkt der Untersuchung weniger als 50 Prozent eigenes Stammpersonal. Knapp ein Drittel der Beschäftigten in der Branche komme aus dem Ausland, größtenteils aus Osteuropa. Vor allem in Subunternehmen fehlten Betriebsräte, die die Einhaltung von Sozialstandards überwachen. Das Tarifsystem sei stark fragmentiert. Haustarifverträge würden meist auf regionaler Ebene verhandelt. Zurzeit gilt in der Fleischwirtschaft der gesetzliche Mindestlohn von 9,35 Euro pro Stunde. Der Anfang 2018 neu ausgehandelte Mindestlohn-Tarifvertrag wurde nicht für allgemeinverbindlich erklärt. 

Nach Kritik an Missständen in der Branche hatten sich die großen Fleischkonzerne bereits 2015 verpflichtet, für bessere Arbeitsbedingungen zu sorgen. Außerdem sollten Subunternehmen ihre Arbeitnehmer bei der Sozialversicherung in Deutschland melden. Seitdem habe der Anteil sozialversicherungspflichtig Beschäftigter zwar tatsächlich zugenommen, so Stracke. Nach wie vor bestünden aber gravierende Mängel: Durch Schichtarbeit, Kälte, Lärm, hohe Luftfeuchtigkeit, Kunstlicht und getaktete Fließbandarbeit sei die Belastung hoch. Die Zahl der über 55-Jährigen sei in den vergangenen Jahren stark gestiegen, die Arbeitsbedingungen seien aber vielfach nicht altersgerecht. Arbeitsschutzbehörden stellten einige Verstöße gegen die Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeiten fest. 

Eine freiwillige Selbstverpflichtung könne „keine Alternative für tarifvertragliche Mindeststandards bei Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“ sein, erklärt der Experte. Immerhin besteht die Chance, dass sich die Verhältnisse in der Fleischindustrie künftig verbessern. Durch Corona ist das Thema in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales will in den kommenden Wochen einen Entwurf zum Arbeitsschutz in der Fleischbranche vorlegen, darin dürfte es um stärkere Regulierung bis hin zu einem Verbot von Werkverträgen gehen.

Werkverträge: Betriebsräte verhindern Missbrauch

Der Missbrauch von Werkverträgen ist in Schlachtbetrieben besonders weit verbreitet und offensichtlich. Doch auch in anderen Branchen lagern viele Unternehmen erhebliche Teile ihres Geschäfts an Subunternehmer mit schlechteren Arbeitsbedingungen aus. Das zeigt eine vom I.M.U. geförderte Studie der Politologin Katrin Vitols, die auf einer Befragung von Betriebsräten und Betriebsfallstudien – vor allem im verarbeitenden Gewerbe – basiert.

Die befragten Betriebsräte berichten, dass im Schnitt 13 Prozent des Arbeitsvolumens im Kernbereich von Unternehmen im Rahmen von Werk- und Dienstverträgen erledigt wird. Im Trend nimmt die Beauftragung von Subunternehmern zu. Oft geht es der Forscherin zufolge darum, Tarifstandards und Mitbestimmungsrechte zu unterlaufen. Als bedenklich hinsichtlich der Arbeitsbedingungen stufen 39 Prozent der befragten Betriebsräte Vertragsverhältnisse mit Dienstleistern oder Subunternehmern ein. Von den Betriebsräten bei Intensiv­nutzern, bei denen Subunternehmen über 30 Prozent des Arbeitsvolumens erledigen, halten drei Viertel die Verhältnisse für bedenklich. Wo der Umfang der Fremdvergaben in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat, sind die Betriebsräte ebenfalls skeptischer als im Durchschnitt.

Wenn es darum geht, den Missbrauch von Werkverträgen einzudämmen, gebe es zwar durchaus Hebel für Betriebsräte und Gewerkschaften, so I.M.U.-Experte Jan Giertz. Allerdings brauche es dringend politische Rückendeckung. Giertz verweist auf Forderungen der IG Metall, den Betriebsräten Mitbestimmungsrechte bei Werkverträgen gesetzlich einzuräumen. Zudem sollte der Gesetzgeber dafür sorgen, dass bei Scheinwerkverträgen eine Umkehr der Beweislast erfolgt, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ bei entsandten Beschäftigten realisiert wird und dass die für die Überwachung zuständigen Stellen wie Zoll und Gewerbeaufsicht mehr Personal erhalten. Solange es keine wirksame gesetzliche Handhabe gebe, müssten Betriebsräte andere Instrumente einsetzen – und beispielsweise versuchen, über Betriebsvereinbarungen Einfluss zu nehmen.

Dass engagierte Betriebsräte mit guten Argumenten und politisch geschicktem Vorgehen in Sachen Werkverträge viel erreichen können, belegt eine Studie, die Markus Hertwig von der TU Chemnitz und Carsten Wirth von der Hochschule Darmstadt für das I.M.U. durchgeführt haben. Ein Erfolgsgeheimnis besteht demnach darin, das Management an seinen eigenen Aussagen zu messen: Bei den untersuchten Firmen konnten die Betriebsräte nachweisen, dass die dysfunktionale Praxis in deutlichem Widerspruch zu den betriebswirtschaftlichen Zielen der Werkvertragsvergabe – Kostensenkung und größere Kundenzufriedenheit – stand.

Stefan Stracke: Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung, Hans-Böckler-Stiftung, Dezember 2019

Katrin Vitols: Die Praxis von Werk- und Dienstverträgen, I.M.U.-Study, April 2019

Jan Giertz: Keine Probleme mehr mit Werkverträgen? Handlungsmöglichkeiten für Betriebsräte

Markus Hertwig, Carsten Wirth: Mitbestimmung ohne Mitbestimmungsrechte? Study der HBS Nr. 430, Oktober 2019

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