Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitswelt: Ständig auf Achse
Einst waren Dienstreisen ein Privileg von Führungskräften und eine Domäne der Vertriebsmitarbeiter - inzwischen ist gut jeder fünfte Angestellte und Arbeiter beruflich unterwegs. Die mobilen Beschäftigten leiden zunehmend unter Zeitmangel und Stress.
Rechnungsprüfer halten sich wochenweise in anderen Unternehmen auf, IT-Experten schauen regelmäßig beim Kunden vorbei, PR-Berater stellen ihre Konzepte mal in Nord-, mal Süddeutschland vor: Insgesamt werden in Deutschland jährlich etwa 166 Millionen Geschäftsreisen unternommen. Jeder fünfte Beschäftigte ist inzwischen gelegentlich oder häufig beruflich unterwegs - und die Quote der mobilen Beschäftigten wird sich in den kommenden Jahren noch weiter erhöhen, prognostizieren Sven Kesselring und Gerlinde Vogl von der TU München. Weil zunehmend größere Teile der Belegschaften reisen, bekommt das Thema "Mobile Arbeit" eine immer wichtigere Rolle für Betriebsräte und den betrieblichen Gesundheitsschutz. Die Soziologen haben 68 Experten, Betriebsräte und viel reisende Beschäftigte interviewt, um die Folgen der Mobilisierung von Arbeit beschreiben und analysieren zu können.
"Ein tief greifender Strukturwandel der Arbeit" habe sich vollzogen, schreiben die Wissenschaftler. Die Wertschöpfungsketten der Produkte und Dienstleistungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten auf entfernte Standorte verteilt - und um die räumlich verstreuten Tätigkeiten zu organisieren, müssen mehr Beschäftigte reisen. Galt die Bereitschaft zur Mobilität lange als besondere Anforderung für das Führungspersonal oder für einzelne Tätigkeiten im Vertrieb oder von Montagekräften, so setzen Arbeitgeber diese Bereitschaft nun bei Stellen voraus, die als ortsgebunden galten. Selbst Facharbeiter werden vom Arbeitgeber ins Ausland geschickt, um Fabriken aufzubauen, Laborkräfte fahren zu Kunden, um den Vertrieb zu unterstützen.
Die Unternehmen drängen zusätzlich auf eine Verdichtung der mobilen Arbeit, berichten Kesselring und Vogl. Die Beschäftigten sollen unterwegs so effizient arbeiten wie am Unternehmenssitz. Um das einhalten zu können, müssen Beschäftigte den Aufenthalt in der Bahnhofshalle oder am Flughafen zur Arbeit nutzen. Zugleich büßen Dienstreisen an Komfort ein. Nach dem Konjunktureinbruch kündigten etliche Firmen eine Senkung der Reiseetats an, ohne das Reisevolumen einzuschränken. Dienstreisen werden wegen der günstigen Flugkosten aufs Wochenende gelegt oder das Unternehmen bucht zeitraubende Umwege. Beschäftigte müssen statt in der Innenstadt in einem schmucklosen Hotel im Industriegebiet übernachten oder noch am gleichen Tag nach Hause fahren. Ein Techniker erklärt: "Wenn ich mehrere Tage unterwegs bin und man dazwischen ein bisschen Luft hat, dann macht es noch Spaß. Aber wenn die Termine so dicht sind, dass ich in zwei Tagen möglichst drei Standorte besuchen kann, dann ist es nur Stress."
Steigende Belastungen, zu wenig Zeit für Familie und Freunde, nicht genug Kontakt zu Kollegen und unzureichende Informationen über das Betriebsgeschehen - über all diese Probleme klagen die mobilen Arbeiter und Angestellten. Dienstreisen erschweren es, regelmäßig Kontakte zu pflegen, sie tragen zur gesellschaftlichen Desintegration bei, schreiben Kesselring und Vogl. Viel reisende Beschäftigte haben Studien zufolge ein höheres Burn-Out-Risiko als ihre sesshaften Kollegen. Trotz dieser offensichtlichen Nachteile beschreiben die Befragten aber Mobilität und Dienstreisen noch immer "als Quelle von Autonomie, Selbstverantwortung und sozialer Anerkennung"i. Die Dienstreise ist kein Privileg mehr, sie wird jedoch weiterhin so wahrgenommen. Die Beschäftigten wollen dem gerecht werden, sie achten darauf, ihre Reisen effektiv und effizient zu nutzen. Die Forscher beobachten eine "massive Selbstrationalisierung der Beschäftigten".
Vielen Belegschaften seien die sozialen Kosten mobiler Arbeit nicht ausreichend klar, sagen die Studienautoren. Um mehr Aufmerksamkeit für diese Probleme zu schaffen, regen sie Bildungsangebote an. Zudem solle sich der betriebliche Gesundheitsschutz verstärkt der Regulierung widmen. Die Frage, wie jemand reist, ist in den Unternehmen nach wie vor eine Frage von sozialem Status; gesundheitliche Erfordernisse spielen hingegen so gut wie keine Rolle. Die Wissenschaftler schlagen vor, die mobilen Kollegen verstärkt in die Betriebsratsarbeit einzubeziehen. "Mobile Arbeiter sind individualisierte Arbeiter", so die Studie, diese Vereinzelung sollte aufgebrochen werden. Es sei nötig, auch die Gestaltungs- und Verhandlungsmacht derer zu stärken, die nicht ständig am Firmensitz tätig sind. Denn längst ist mobiles Arbeiten kein Randphänomen mehr.
Sven Kesselring, Gerlinde Vogl: Betriebliche Mobilitätsregime. Die sozialen Kosten mobiler Arbeit, edition sigma, Band 117, Berlin 2010
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