Quelle: HBS
Böckler ImpulsBürgerversicherung: Stabilere Finanzen, mehr Gerechtigkeit
Eine Bürgerversicherung ist sinnvoll, verfassungskonform und lässt sich – mit Übergangsregelungen – auch praktisch umsetzen. Zu diesem Ergebnis kommt ein aktuelles Gutachten.
Sie ist als die solidarischste aller Sozialversicherungen gedacht: Die gesetzliche Kranken- (GKV) und die Pflegeversicherung verteilen Jahr für Jahr viele Milliarden Euro um – von Gesunden zu Kranken und von Menschen mit höherem Erwerbseinkommen zu schlechter Verdienenden und nicht Erwerbstätigen. Dahinter stehen ein gesellschaftliches Ideal, aber auch eine ganz praktische Idee: Erkrankungen stellen ein so elementares und häufig teures Risiko dar, dass selbst Menschen mit höherem Einkommen schnell damit überfordert wären, sich individuell abzusichern. Das soll die Solidargemeinschaft der Versicherten übernehmen. „Es folgt also aus dem Solidaritätsprinzip und ist ein Strukturprinzip der GKV, dass die Beiträge nach der ‚Leistungsfähigkeit‘ der Mitglieder und nicht nach ihrem individuellen Risiko oder zukünftig zu erwartenden Leistungsansprüchen erhoben werden“, betont Karl-Jürgen Bieback, Juraprofessor an der Universität Hamburg.
Gleichwohl hat das Prinzip im aktuellen System der Gesundheitsfinanzierung Grenzen: Erstens werden Beiträge zur GKV auf Lohn und Gehalt erhoben, nicht aber auf Einkünfte aus Geldanlagen oder Mieten. Zweitens gilt eine Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 3.937,50 Euro im Monat – wer mehr verdient, zahlt davon nichts an die Krankenkasse. Und drittens führt die historisch bedingte Aufteilung des Krankenversicherungsmarktes in gesetzliche und private Krankenversicherung (PKV) dazu, dass gerade viele besser Verdienende gar nicht Mitglied in der GKV sind. Befürworter einer Bürgerversicherung wollen das ändern, um die Finanzbasis der Krankenversicherung zu stabilisieren und die Finanzierung gerechter zu gestalten. Ihre Konzepte sehen vor, PKV und GKV in eine integrierte solidarische Versicherung zu überführen, die Beitragsbemessungsgrenze entweder deutlich anzuheben oder ganz abzuschaffen und alle Einkommensarten bei der Finanzierung einzubeziehen.
Im Auftrag des Sozialverbands Arbeiterwohlfahrt (AWO) haben der Sozialrechtsexperte Bieback und Stefan Greß, Professor für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fulda, untersucht, ob das sinnvoll und möglich ist. Ihr Fazit: Das Grundgesetz lässt dem Gesetzgeber die entsprechenden Spielräume. Und die sollten genutzt werden: Eine Bürgerversicherung werde „ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die nachhaltige Finanzierung zukünftiger Herausforderungen sein. Zudem könnte ein Großteil der Gerechtigkeitsdefizite in der Finanzierung von Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung überwunden werden.“
In ihrem Gutachten untersuchen der Jurist und der Gesundheitsökonom für jede der drei Reformdimensionen, ob sie die Gesundheitsfinanzierung gerechter und nachhaltiger macht – und welche rechtlichen Aspekte zu beachten sind.
Ende der Marktaufteilung. Gut 38.100 Euro verdiente ein durchschnittlicher PKV-Versicherter im Jahr 2006. GKV-Mitglieder hatten im Mittel nur ein Einkommen von 22.700 Euro. Zudem waren die privat Versicherten spürbar gesünder, zeigen empirische Untersuchungen. Eine europaweit einmalige Marktaufteilung verursacht diese Unterscheide: Beamten gibt das Beihilfesystem einen starken Anreiz, sich in der PKV versichern. Abhängig Beschäftigte dürfen das hingegen nur, wenn sie weit überdurchschnittlich verdienen: Aktuell mehr als 52.200 Euro brutto im Jahr. Sie und Selbstständige können sich entlang ihres persönlichen Kosten-Nutzen-Kalküls entscheiden: Wer weniger verdient, älter oder krank ist oder Familie hat, für den ist die GKV attraktiver. Junge, körperlich fitte Singles mit hohem Einkommen wählen hingegen oft die PKV.
Bieback und Greß bezeichnen diese Regelungen als „negative Risikoauslese zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung“. Diese, warnen die Wissenschaftler, würde sich noch verstärken, wenn im bestehenden Doppelsystem die Wahl zwischen gesetzlicher und privater Versicherung freigegeben würde, wie es Gesundheitsminister Daniel Bahr vorschwebt. Und sie ist nicht das einzige Problem: Dass die PKV bislang Ärzten für die gleichen Leistungen mehr zahle als die GKV, sei nicht nur ein Gerechtigkeitsdefizit, weil GKV-Versicherte benachteiligt werden. Es könne auch zu Effizienzverlusten im Gesundheitswesen führen, schreiben die Gutachter und zitieren eine Analyse des Wirtschafts-Sachverständigenrats: Mediziner würden „nicht gemäß ihren Fähigkeiten und den medizinischen Erfordernissen eingesetzt, sondern gemäß der Versicherungszugehörigkeit der Patienten. Es kommt zu einer Fehlallokation von knappen Ressourcen und zu Qualitätsdefiziten, die bei einer einheitlichen Honorierung auf einem einheitlichen Markt in geringerem Maße auftreten würden“, warnten die „Wirtschaftsweisen“ bereits 2004.
Echter Wettbewerb. Einer Bürgerversicherung attestieren Bieback und Greß positive Wirkungen: Der „bisherige verzerrte Systemwettbewerb“ weiche einem „echten Wettbewerb mit einheitlichen Rahmenbedingungen“. Das komme auch Versicherten der PKV zu Gute, bei der derzeit „Schwächen im Geschäftsmodell“ zu Tage träten, betonen die Forscher: So wuchsen die jährlichen Ausgaben der PKV zwischen 2002 und 2010 im Durchschnitt um 4,8 Prozent. Bei der GKV waren es nur 2,9 Prozent. „Damit steigen auch die Prämien – vor allem für ältere Versicherte, die wiederum keinerlei Rückkehroption in die GKV haben.“
Verfassungs- und sozialrechtlich ist die Einbeziehung künftiger PKV-Kunden in die Bürgerversicherung nach Überzeugung der Gutachter zulässig. Mehr Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bei der Finanzierung der Krankenversicherung seien Ziele, die das „Bundesverfassungsgericht als besonders wichtige Interessen der Gemeinschaft anerkannt“ habe. Das rechtfertige „entsprechend starke Eingriffe“, und wiege in der juristischen Abwägung allemal schwerer als etwa die „Vorsorgefreiheit“ von Versicherten oder die „Berufsfreiheit“ der PKV-Unternehmen. Bei den bestehenden PKV-Verträgen erwarten die Wissenschaftler hingegen höhere Hürden: Es gelte ein Eigentumsschutz, beispielsweise für die Altverträge bei den PKV-Unternehmen mit langfristig gebildeten Altersrückstellungen.
Das bremse die Umstellung: So sei unsicher, ob ein „Stichtagsmodell“ vor den höchsten Gerichten Bestand hätte, bei dem sich alle Versicherten einfach zu einem festgesetzten Datum zu gleichen Wettbewerbsbedingungen bei einem Krankenversicherer ihrer Wahl versichern. Keine Alternative biete jedoch eine „Übergangslösung mit einem dauerhaften Bestandsschutz der Altverträge“, so die Wissenschaftler. Denn dann werde das neue, integrierte Krankenversicherungssystem „die bestehenden Gerechtigkeits- und Nachhaltigkeitsprobleme erst im Laufe von Generationen beseitigen“. Bieback und Greß favorisieren daher ein Wechselrecht, das PKV-Altversicherten erlaubt, in die GKV überzutreten und dabei ihre PKV-Altersrückstellungen mitzunehmen. Dieser Beitrag sei nötig, weil gerade ältere Wechselwillige von der sozialen Umverteilung der GKV profitieren würden – ohne bislang dafür bezahlt zu haben. Zwar würden wohl vor allem die Alten zu Lasten der GKV wechseln. Das ließe sich aber dadurch rechtfertigen, dass die Jungen nun alle bei der GKV versichert seien.
Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Die Beitragsbemessungsgrenze ganz abzuschaffen, hätte „durchschlagende Wirkungen“ auf die Nachhaltigkeit und die Gerechtigkeit der Beitragsfinanzierung, schreiben die Wissenschaftler. Sie verweisen unter anderem auf Untersuchungen, nach denen alleine dieser Reformschritt eine Beitragssatzsenkung um 0,8 Prozentpunkte erlauben würde. Allerdings erwarten sie bei einer kompletten Streichung verfassungsrechtliche Unsicherheiten. Problemlos und ausreichend sei dagegen eine Angleichung an die Bemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die verläuft derzeit bei einem Monatsbrutto von 5.500 Euro.
Beiträge auf weitere Einkommensarten. Diese dritte Komponente der Bürgerversicherungsmodelle sei „auch aus einer verfassungs- und sozialrechtlichen Perspektive dringend geboten“, um mehr Gerechtigkeit zu erreichen, schreiben Bieback und Greß. Die Nachhaltigkeit der Finanzierung werde verbessert – auch wenn der Effekt wegen steuerrechtlicher Besonderheiten wie der Abgeltungssteuer nicht überschätzt werden solle. Schließlich sei auch die praktische Umsetzung einfacher, als oft befürchtet werde: Die zusätzlichen Beiträge könnten „mit überschaubarem bürokratischem Aufwand“ durch die Finanzämter festgesetzt werden.
Stefan Greß, Karl-Jürgen Bieback: Zur Umsetzbarkeit einer Bürgerversicherung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit, Gutachten für den Arbeiterwohlfahrt Bundesverband (pdf), Mai 2013.