Quelle: HBS
Böckler ImpulsSozialsystem: Sozialversicherungen: Stabilisatoren in der Krise
Das deutsche Sozialversicherungssystem bewährt sich in der Krise. Es stabilisiert die wirtschaftliche Entwicklung. Doch das hat seinen Preis: Der Druck steigt, die soziale Sicherung schnell auf eine breitere Finanzierungsbasis zu stellen.
So viel Widerstandskraft überrascht auch Experten: Die schwerste globale Wirtschaftskrise seit 80 Jahren hat die Arbeitslosigkeit in Deutschland bislang nur moderat erhöht. Neben den staatlichen Stabilisierungsprogrammen verhindert derzeit ein stabiler privater Konsum, dass die Konjunktur nach dem enormen Einbruch der Exportwirtschaft noch weiter abstürzt.
Einen wesentlichen Beitrag zu dieser relativen Stabilität leistet das deutsche System der Sozialversicherung. So das Resümee einer Studie des IMK-Forschers Rudolf Zwiener, der Berliner Arbeitsmarktforscherin Camille Logeay, des Frankfurter Rentenexperten Diether Döring und des Fuldaer Gesundheitsökonomen Stefan Greß. Wenn die Kurzarbeit Unternehmen dabei hilft, ihre Belegschaft trotz Auftragsmangels zu halten, wenn die Transfers aus dem Krankenversicherungssystem fließen und die umlagefinanzierte Rente sogar spürbar steigt, dann wirkt das wie ein volkswirtschaftlicher Stoßdämpfer. Allerdings nur für einen begrenzten Zeitraum, weil die Wucht der Krise das Schutzsystem enorm belastet, schreiben die Wissenschaftler: "Die Stabilisatoren laufen ins Leere, wenn die Krise länger als ein bis zwei Jahre dauert." Würde dann etwa mit überstürzten Beitragserhöhungen auf die krisenbedingten Defizite reagiert, könnte das die Konjunktur in einer Phase der beginnenden Erholung sogar deutlich belasten. "Es ist daher dringend geboten, schon jetzt Konzepte für eine nachhaltige Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu entwickeln."
Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung haben die Wissenschaftler untersucht, was die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung in der Krise leisten. Zugleich skizzieren sie, was kurz- und mittelfristig getan werden kann, um die Stabilisatoren zu stabilisieren:
Arbeitslosenversicherung. Sie leistet den wichtigsten Beitrag, um die Krise abzufedern - und muss die höchsten Belastungen aushalten. Für die Finanzierung der Kurzarbeit kalkuliert die Bundesagentur für Arbeit (BA) 2009 bis zu fünf Milliarden Euro ein. Trotzdem dürfte die Arbeitslosenzahl 2010 auf rund 4,3 Millionen steigen. Die BA wird mehr Arbeitslose unterstützen müssen und zugleich weniger Beitragszahler haben. Weiter geschwächt wird die Einnahmebasis, wenn lahmende Konjunktur und hohe Arbeitslosigkeit die Lohnentwicklung bremsen. Die starke Senkung des Beitragssatzes erweise sich nun endgültig als "nicht nachhaltig", konstatieren die Forscher. Sie rechnen damit, dass bei der BA bis 2013 ein Defizit von mehr als 50 Milliarden Euro aufläuft.
Um das Finanzierungsproblem kurzfristig in den Griff zu bekommen, gebe es keine "Ideallösung". Kürzungen bei Leistungen oder Arbeitsmarktpolitik schieden auf jeden Fall aus, weil sie die Konjunktur massiv schädigen könnten. Um Arbeitslose auf einem ohnehin schwierigen Arbeitsmarkt nicht sinnlos unter Druck zu setzen, wäre es aus Sicht der Wissenschaftler vernünftig, die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld I befristet zu verlängern. Am praktikabelsten erscheint ihnen eine vorsichtige Anhebung des Beitragssatzes über die für 2011 vorgesehenen drei Prozent hinaus in Kombination mit einem Bundeszuschuss, den die BA nicht zurückzahlen muss. Mittelfristig befürworten die Experten eine stärkere Steuerfinanzierung der Arbeitslosenversicherung, die nicht nur für den einzelnen Versicherten, sondern für die gesamte Gesellschaft nützliche Leistungen übernehme. Außerdem empfehlenswert: Der Umbau hin zu einer Erwerbstätigenversicherung, die auch Selbstständige schützt. Ideen, die Arbeitslosenversicherung zu privatisieren oder zu individualisieren halten die Forscher endgültig für erledigt: Ein derartiges System könne in einer ernsten Krise nicht den notwendigen Stabilisierungsbeitrag leisten.
Rentenversicherung. In Ländern mit einem Alterssicherungssystem, das auf Kapitaldeckung beruht, schlägt die Krise unmittelbar auf die Einkommen der Rentner durch. In den USA haben private Pensionspläne im Jahr 2008 nach einer OECD-Schätzung ein Viertel ihres Aktienwerts verloren. Sinkende Rentenzahlungen schaden dem Konsum. Manche Rentner sind sogar gezwungen, sich wieder einen Job zu suchen. In der gegenwärtigen Situation "mit Massenentlassungen konkurrieren sie so mit Arbeitslosen um die wenigen neuen Arbeitsplätze", schreiben die Forscher.
Die deutsche umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung (GRV) hat hingegen die Krisenwirkungen zunächst abgefangen. Zeitverzögert und etwas abgemildert wird eine höhere Arbeitslosigkeit zwar auch die Finanzlage der GRV verschlechtern. Die Probleme sind nach Einschätzung der Experten aber deutlich kleiner als die in kapitalgedeckten Systemen. Die Krise unterstreiche daher "die Notwendigkeit einer starken umlagefinanzierten Säule als Kern des Gesamtsicherungssystems". Kritisch hinterfragen die Autoren aus diesem Anlass auch die rentenpolitische Strategie des vergangenen Jahrzehnts - deutliche Absenkung des GRV-Rentenniveaus bei gleichzeitiger Förderung kapitalgedeckter Altersvorsorge. Denn gerade junge Arbeitnehmer, Geringverdiener und Menschen mit unsteten Erwerbsverläufen, die vom niedrigeren gesetzlichen Rentenniveau besonders betroffen sind, besitzen kaum Alternativen. Zur betrieblichen Altersversorgung haben zu wenige Zugang und oft fehlt auch das Geld für eine private Altersvorsorge. Bei der Riester-Rente fördere der Staat zwar vor allem Sparer mit geringerem Einkommen. Ein erheblicher Teil davon gehe aber durch relativ hohe Abschluss-, Verwaltungs- und Steuerungskosten für die Individualverträge wieder verloren. Es wäre daher effektiver "die eingesetzten öffentlichen Mittel eher in die Stützung von Ansprüchen von Niedriglohnbeziehern im gesetzlichen System zu lenken", schreiben die Wissenschaftler. Staaten, deren Sozialsystem "alle Erwerbsformen gleich behandelt und in die Kernsysteme einbezieht", zeigten im internationalen Vergleich zudem die beste Arbeitsmarktbilanz.
Kranken- und Pflegeversicherung. Experten rechnen für 2009 mit einem Defizit von rund drei Milliarden Euro bei den gesetzlichen Krankenkassen. Auch hier ist die schlechtere Situation auf dem Arbeitsmarkt ein wesentlicher Grund. Im kommenden Jahr droht ein ähnlich hoher Fehlbetrag. Immerhin: Der Bund hilft mit einem Liquiditätsdarlehen an den Gesundheitsfonds aus, das erst 2011 zurückbezahlt werden muss. Doch dann drohe eine Beitragssatzerhöhung um etwa 0,6 Prozentpunkte oder die flächendeckende Einführung von Zusatzbeiträgen, konstatieren die Forscher. Unterdessen sind die Auswirkungen der Krise auf die Altersrückstellungen der privaten Krankenversicherung (PKV) nach ihrer Analyse "völlig unklar". Zwar seien die Anlageregeln relativ streng und die Verzinsung der Anlagen habe nach Darstellung der PKV-Unternehmen 2008 noch bei knapp vier Prozent gelegen. "Das könnte sich jedoch schon im Jahr 2009 durch die drastisch fallenden Zinssätze bei Staats- und Unternehmensanleihen ändern", schreiben die Forscher. Zudem könnten die PKV-Anlagen unter schwächelnden Aktienmärkten leiden und seien sensibel für Pleiten von "systemrelevanten" Banken und Versicherungen: Im Jahr 2007 hatten die deutschen Lebens- und privaten Krankenversicherer rund 20 Prozent ihrer Rücklagen in Aktien angelegt. Und knapp ein Drittel der PKV-Altersrückstellungen steckten in Schuldscheinforderungen und Darlehen.
Angesichts solcher Risiken sehen die Wissenschaftler alle Ansätze sehr kritisch, die eine stärkere Kapitaldeckung fordern, um die Krankenversicherung gegen die Alterung der Gesellschaft abzusichern. Als tragfähiger beurteilen sie Reformen, bei denen die Finanzbasis der Sozialversicherung dadurch verbreitert wird, dass auch Kapitaleinkommen zur Finanzierung herangezogen werden und die Beitragsbemessungsgrenze steigt. Zudem halten sie es für erforderlich, die bislang voneinander abgeschotteten Märkte der GKV und der PKV unter gleichen Wettbewerbsbedingungen zu öffnen. Als positiv bewerten die Experten, dass die Bundesregierung im Zuge der Konjunkturpakete den Steuerzuschuss an den Gesundheitsfonds aufgestockt hat. Diesen Weg halten sie auch über die Krise hinaus für vernünftig: "Eine stärkere Steuerfinanzierung der Ausgaben der Sozialversicherung bei gleichzeitiger Senkung der Sozialbeiträge weitet den Kreis derer aus, die sich an der Finanzierung gesellschaftlicher Leistungen zu beteiligen haben", schreiben sie. Das würde "leistungsfähige höhere Einkommen stärker belasten als niedrige Einkommen und die Nachhaltigkeit der Finanzierung deutlich verbessern."
Diether Döring, Stefan Greß, Camille Logeay, Rudolf Zwiener: Kurzfristige Auswirkungen der Finanzmarktkrise auf die sozialen Sicherungssysteme und mittelfristiger Handlungsbedarf (pdf). Policy Paper im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung. WISO Diskurs, September 2009