Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Soziale Koordination schafft Stabilität
Die Mitgliedsländer der Europäischen Union wollen ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik in Zukunft besser aufeinander abstimmen. Dabei konzentrieren sie sich jedoch einseitig auf die Verschuldung ihrer Staatshaushalte.
Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise haben deutlich gemacht, wie unzureichend die politische Koordination der EU-Mitglieder bislang gewesen ist, so die Analyse von IMK-Forscher Till van Treeck und dem Politologen Björn Hacker. Neue, besser aufeinander abgestimmte Steuerungsinstrumente sollen nach den Plänen der EU-Kommission die Krise überwinden und künftige Turbulenzen vermeiden helfen. Anfang 2011 startet hierfür erstmals das so genannte Europäische Semester. Eine umfassende wirtschaftspolitische Abstimmung in Europa ist zwar positiv zu bewerten, schreiben die beiden Forscher. Die EU setze jedoch am falschen Ende an: bei Flexibilisierungen auf den Arbeitsmärkten und Strukturreformen in den Systemen der sozialen Sicherung, damit staatliche Ausgaben gekürzt werden können. Nötig wäre es stattdessen, außenwirtschaftliche Ungleichgewichte auszutarieren und einen sozialen Stabilitätspakt einzurichten, so die Wissenschaftler.
Das Europäische Semester soll nach den EU-Plänen zwei bislang weitgehend getrennt ablaufende Prozesse miteinander verzahnen: die Überwachung der Haushaltspolitik im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die Strategie "Europa 2020". Diese verfolgt drei Ziele: ein Wirtschaftswachstum, das sich auf Wissen und Innovation stützt, dazu umweltverträglich ist - und Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt fördert. Anders als bei der vorherigen "Lissabon-Strategie", die 2010 ausgelaufen ist, soll das Wachstum der EU also nicht allein auf einer Steigerung des Bruttoinlandsproduktes basieren, heben van Treeck und Hacker hervor.
Trotzdem sehen die Forscher Defizite. Denn "auch die positiven Elemente der Europa 2020-Strategie scheinen von der Forderung nach haushaltspolitischer Konsolidierung und mitgliedstaatlicher Wettbewerbssteigerung dominiert zu sein". Trotz ihrer breiter gefächerten Zielprioritäten beschränke sich die neue Strategie weiterhin auf deregulierte Arbeitsmärkte und geringere Sozialleistungen. So fordert die EU-Kommission die Mitgliedstaaten dazu auf, Steuer- und Sozialleistungssysteme mit Blick auf verbesserte Anreize zur Arbeitsaufnahme zu reformieren. Altersbedingte öffentliche Ausgaben für Rente und Gesundheit würden gekürzt sowie das effektive Rentenalter erhöht.
Für die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sind nach den EU-Plänen bislang folgende Prioritäten vorgesehen:
- Der staatliche Schuldenstand erhält den gleichen Stellenwert wie das Haushaltsdefizit. Ein Verstoß gegen eines der beiden Kriterien zieht schneller Sanktionen nach sich.
- Bei einem Verstoß gegen die - noch zu definierenden - mittelfristigen Ziele der "vorsichtigen Haushaltspolitik" sind Strafzahlungen möglich.
- Ein dauerhafter Krisenbewältigungsmechanismus wird den 2013 auslaufenden Rettungsschirm für Staatsanleihen ablösen.
Zwar schlägt die EU-Kommission erstmals auch Sanktionen bei übermäßigen außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten vor. Dabei bleibe aber bisher unklar, wie die hierzu notwendige Koordinierung von Lohn- und Fiskalpolitik funktionieren soll, bemängeln van Treeck und Hacker. Konzentrieren sich die Mitglieder der Eurozone in den nächsten Jahren ausschließlich darauf, ihre Schuldenstände zu reduzieren, steht ihnen nach Einschätzung der Forscher schlimmstenfalls ein Jahrzehnt schwachen Wachstums und schwerer sozialer Einschnitte bevor: Künftig könnte die EU Staaten auch zu umfassenden Strukturreformen ihrer sozialen Sicherungssysteme auffordern, wenn sie ihre Budgetziele nicht einhalten.
- Ein neuer, doppelter Stabilitätspakt
Die Krise in Europa sei nicht vorrangig auf die mangelnde Haushaltsdisziplin einiger weniger Länder zurückzuführen, legen die beiden Wissenschaftler dar. Die Anfälligkeit für Spekulationsattacken hänge viel stärker vom Saldo der Leistungsbilanz ab als vom staatlichen Haushaltsdefizit. Ein neuer Stabilitätspakt sollte daher - die Länder mit zu hohen Leistungsbilanzdefiziten dazu verpflichten, das Lohnstückkostenwachstum zu begrenzen und notfalls eine restriktive Fiskalpolitik zu betreiben.
- Länder mit zu hohen Überschüssen müssten zu einer expansiveren Fiskalpolitik oder zur Aufgabe der Lohnzurückhaltung und allgemein zur Stärkung ihrer heimischen Nachfrage angehalten werden.
Um die innereuropäische Konkurrenz um Investitionen, Arbeitsplätze und Produktionsstandorte in geregelte Bahnen zu lenken, empfehlen Hacker und van Treeck anstatt der bisherigen wettbewerbsgetriebenen Harmonisierung einen weiteren, sozialen Stabilitätspakt: die Koordination von Mindestlöhnen, Unternehmensteuern und Sozialausgaben der Mitgliedstaaten entsprechend ihrer jeweiligen ökonomischen Leistungsfähigkeit.
Björn Hacker, Till van Treeck: Wie einflussreich wird die europäische Governance?, Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2010
Download der Studie (pdf)