Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Schuldenregeln schränken Investitionen ein
Die EU-Staaten sollten größeren Spielraum für Investitionen bekommen. Tatsächlich könnten die neuen europäischen Fiskalregeln aber das Gegenteil bewirken.
Einige europäische Länder wie Frankreich, Italien und Spanien könnten in den kommenden Jahren zu erheblichen Einsparungen gezwungen sein. Darunter würden öffentliche Investitionen leiden, die für die Zukunft Europas dringend gebraucht werden. Auch Deutschland ist betroffen – zwar in geringerem Ausmaß, aber mitten in einer Phase geringer Investitionstätigkeit und schwachen Wachstums. Das geht aus einer Analyse von Christoph Paetz und Sebastian Watzka vom IMK hervor.
„Es war richtig, dass die EU die Fiskalregeln reformiert hat, weil die alten Regeln wachstumsfeindlich waren. Leider ist die Reform aber nur zum Teil gelungen. Aufgrund technischer Details drohen auch die neuen Regeln zur Wachstumsbremse zu werden“, ordnet Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK, die Ergebnisse ein. „Hier sollte die Europäische Kommission schnell nachbessern. Es ist auch Aufgabe der Bundesregierung, eine solche Korrektur in Brüssel anzumahnen.“
Der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt stand lange in der Kritik. Er enthielt zu ehrgeizige Vorgaben für den Schuldenabbau, nicht überprüfbare Zielwerte, wirkte prozyklisch und vernachlässigte die öffentlichen Investitionen. Das wollte die EU-Kommission mit einer Reform der Fiskalregeln ändern. Im neuen Regelwerk, das am 30. April dieses Jahres in Kraft getreten ist, gelten zwar weiterhin die im Maastricht-Vertrag festgelegten Kriterien, wonach maximal 60 Prozent Gesamtverschuldung und drei Prozent jährliche Neuverschuldung zulässig sind. Der Weg zur Erreichung dieser Ziele kann nun aber flexibler gestaltet werden. Sowohl eine länderspezifische Herangehensweise als auch verschiedene Geschwindigkeiten bei der Konsolidierung werden ermöglicht.
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Hindernis für dringend notwendige Investitionen
Im Mittelpunkt steht dabei eine Schuldentragfähigkeitsanalyse. Auf deren Grundlage müssen Mitgliedsländer der EU-Kommission „nationale mittelfristige Haushaltsstrukturpläne“ vorlegen, die festschreiben, wie viel das Land in den kommenden Jahren ausgeben darf und welche Reformen zur Konsolidierung umgesetzt werden sollen. Berechnungen für die vier größten EU-Volkswirtschaften zeigen, dass erhebliche Einsparungen notwendig sein werden. Die zu erwartende Haushaltskonsolidierung liegt für Italien bei bis zu 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts pro Jahr, für Frankreich und Spanien bei 0,9 Prozent und für Deutschland bei 0,1 Prozent. „Es liegt auf der Hand, dass solche fiskalischen Konsolidierungsanstrengungen in den kommenden Jahren den dringend erforderlichen umfangreichen öffentlichen Investitionsprogrammen in der EU im Wege stehen“, schreiben die IMK-Experten. Anders als vom IMK im Reformprozess gefordert, enthalten die neuen Regeln keine Ausnahmen für kreditfinanzierte öffentliche Investitionen.
Daneben enthält auch die Schuldentragfähigkeitsanalyse nach Ansicht von Paetz und Watzka problematische Punkte, etwa hinsichtlich der Auswirkungen einer alternden Gesellschaft. Während steigende Kosten etwa für Renten oder das Gesundheitssystem nach den neuen Fiskalregeln vom Primärüberschuss abgezogen werden, bleiben steigende Einnahmen aus Versicherungsbeiträgen oder Steuersystemen unberücksichtigt. Von entscheidender Bedeutung für die Dynamik der Staatsverschuldung ist außerdem das Zins-Wachstums-Differenzial. Bei einem negativen Wert, wenn also der Zinssatz niedriger ist als die Wachstumsrate der Wirtschaft, bleibt die Schuldenquote beherrschbar – man kann sozusagen aus den Schulden herauswachsen. Dies sollte auch bei der Schuldentragfähigkeitsanalyse berücksichtigt werden, zum Beispiel für Frankreich oder Deutschland, wo das Wachstum nach den Prognosen lange Zeit über dem Zinssatz liegen dürfte.
Kleine Änderung, große Wirkung
Die Berechnungen der IMK-Forscher zeigen, dass bereits kleine Veränderungen der Annahmen in der Schuldentragfähigkeitsanalyse spürbare Auswirkungen auf die Staatsfinanzen haben können. Geht man beispielsweise davon aus, dass die Alterungskosten nicht oder neutral einfließen, so hätte allein Spanien nach dem Abschluss des in den Regeln vorgesehenen Anpassungszeitraums von vier Jahren rund 27 Milliarden Euro jährlich mehr Spielraum. Für Italien und Deutschland lägen die finanziellen Spielräume um gut 14 Milliarden Euro pro Jahr höher. Lägen die Zinsen künftig um einen Prozentpunkt unter den Basisannahmen, würde dies den Spielraum nach vier Jahren für Italien um jährlich 16,6 Milliarden Euro, für Frankreich um 14,8 Milliarden Euro, für Deutschland um 11,4 Milliarden Euro und für Spanien um 8,3 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen. Auch wenn die neuen EU-Regeln nicht so drastisch wirkten wie die Sparprogramme in der Eurokrise, könnten sie öffentliche Investitionsprogramme empfindlich einschränken, so Paetz und Watzka. Sie plädieren für eine Anpassung der Fiskalregeln und zusätzlich für die Einrichtung eines EU-weiten kreditfinanzierten Investitionsfonds.
Christoph Paetz, Sebastian Watzka: The new fiscal rules: another round of austerity for Europe? (pdf), IMK Policy Brief Nr. 176, September 2024