Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitszeit: Schuften für den Status
Einkommensungleichheit erhöht die Arbeitszeit: Wenn die Reichen immer reicher werden, muss die Mittelschicht mehr arbeiten, um im Statuswettbewerb mithalten zu können.
Der Ökonom John Maynard Keynes prophezeite 1930 ein „Zeitalter von Muße und Überfluss“: Das stetige Produktivitätswachstum in den Industriestaaten werde dafür sorgen, dass die Menschen im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen und sich stattdessen schöngeistigen Dingen widmen können. Fast hundert Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus: Die durchschnittlichen Arbeitszeiten sind in der Nachkriegszeit zwar tatsächlich deutlich gesunken. Doch seit den 1980er-Jahren stagniert dieser Trend und hat sich zum Teil sogar gedreht. Gleichzeitig gibt es international erhebliche Unterschiede. Woran das liegen könnte, hat Jan Behringer vom IMK gemeinsam mit Martin Gonzalez-Granda und Till van Treeck von der Universität Duisburg-Essen untersucht. Das Ergebnis: Zunehmende Einkommensungleichheit, dezentrale Arbeitsbeziehungen und eine geringe öffentliche Daseinsvorsorge tragen dazu bei, dass die Beschäftigten länger arbeiten.
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Einen Erklärungsansatz bietet laut den Wirtschaftswissenschaftlern die Theorie vom „aufwärtsgerichteten Statusvergleich“: Um Prestige zu erlangen, sei die Mittelschicht bemüht, die Konsumgewohnheiten der Oberschicht nachzuahmen. Je größer die Ungleichheit und damit der finanzielle Spielraum der Reichen, desto mehr müssten die weniger Reichen sich anstrengen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Die Folge: Die Arbeitszeiten werden länger. Einen gegenteiligen Effekt müssten in diesem Zusammenhang zentralisierte Tarifverhandlungen haben, weil sie für einheitliche Arbeitsbedingungen sorgen und dem „Rattenrennen“ zwischen den Beschäftigten Grenzen setzen. Auch ein staatlich finanziertes Bildungssystem sollte langen Arbeitszeiten entgegenwirken, weil sich niemand abrackern muss, um prestigeträchtige Privatschulen bezahlen zu können.
Um diese Annahmen empirisch zu überprüfen, haben die Forscher Daten für 17 europäische Länder und die USA ausgewertet, die sich auf die Jahre 1983 bis 2019 beziehen. Faktoren wie die Produktivität, das Wirtschaftswachstum oder die Steuern auf Arbeitseinkommen wurden bei der Analyse berücksichtigt. Ein Anstieg des Einkommensanteils des reichsten Prozents der Haushalte geht den Ergebnissen zufolge mit einer höheren durchschnittlichen Arbeitszeit einher. Getrieben wird dieser Effekt von den Beschäftigten in den oberen Etagen der Einkommenspyramide, die am ehesten in der Lage sind, sich am Lebensstil der Reichen zu orientieren. Zentralisierte Arbeitsbeziehungen und staatlich finanzierte Sachleistungen wie zum Beispiel kostenlose Schulbildung oder Kinderbetreuung stehen dagegen in einem negativen Zusammenhang mit der durchschnittlichen Arbeitszeit. Je stärker der Bildungssektor privatisiert ist, desto länger arbeiten Beschäftigte mit hohem Bildungsniveau, die mehr als andere bestrebt sein dürften, ihre Kinder auf teure Privatschulen zu schicken.
Die Ergebnisse sprächen dafür, dass Statuswettbewerb tatsächlich dazu beitragen kann, anhaltend lange Arbeitszeiten trotz Produktivitätswachstums und die Unterschiede insbesondere zwischen angelsächsischen und anderen Industrieländern zu erklären, lautet das Fazit der Autoren.
Jan Behringer, Martin Gonzalez-Granda, Till van Treeck: Varieties of the rat race: working hours in the age of abundance, Socio-Economic Review 1/2024