Quelle: HBS
Böckler ImpulsMythen der Sozialpolitik: Prävention statt Polemik
In einer Blog-Serie des WSI zu „Mythen der Sozialpolitik“ setzen sich Forschende mit Klischees in der sozialpolitischen Debatte auseinander. Ein solches Klischee ist die Behauptung, dass die Lohnfortzahlung zur Krankmeldung einlädt.
Der Krankenstand in Deutschland befindet sich auf einem Hoch: Während normalerweise in einem Kalenderjahr gut 160 Krankmeldungen auf 100 Versicherte entfallen, waren es im Herbst 2024 bereits 225. Das liege, so ein gängiges Vorurteil, an Beschäftigten, die die Regelungen zur Lohnfortzahlung ausnutzen. Eike Windscheid-Profeta, Sozialexperte der Hans-Böckler-Stiftung, hält diese These für wenig plausibel. Statt kranke Beschäftigte zu Sündenböcken zu machen, empfiehlt er, für bessere Arbeitsbedingungen und mehr betriebliche Prävention zu sorgen. „Aktuell kursierende Vorschläge wie die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gar kein Lohn am ersten Krankheitstag zielen komplett an den wissenschaftlichen Befunden vorbei“, so Christina Schildmann, Leiterin der Abteilung Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung.
Für den Anstieg der Fehlzeiten in den vergangenen Jahren sind laut Windscheid-Profeta unter anderem psychische Erkrankungen verantwortlich, die im Schnitt mit besonders langen Ausfallzeiten verbunden sind. Solche Erkrankungen würden einerseits heutzutage besser erkannt und schon deshalb häufiger diagnostiziert. Andererseits dürfte der zunehmende Stress in vielen Betrieben durch Personalmangel und Digitalisierung eine Rolle spielen. Aktuell komme zu dieser Entwicklung noch die ungewöhnlich hohe Zahl an Atemwegsinfekten hinzu, die bis 2022 durch die Corona-Schutzmaßnahmen eingedämmt worden waren und nun umso heftiger grassieren.
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Zugleich ist der Anstieg beim Krankenstand schlicht Ausdruck einer besseren Erfassung, erklärt Windscheid-Profeta. Während früher Krankschreibungen auf Papier nicht immer an die Krankenkassen weitergeleitet wurden, geschieht das bei der digitalen Version automatisch, sodass die Statistik präziser ausfällt. Auch der Spitzenplatz bei den Fehlzeiten, den Deutschland im internationalen Vergleich einnimmt, erweist sich bei genauerer Hinsicht als fraglich: Laut OECD, die Befragungsdaten ausgewertet hat, sind die hiesigen Fallzahlen weder im Zeitverlauf noch im Vergleich zu anderen EU-Ländern auffällig. Auch OECD-Experten erklären das höhere Niveau mit der besseren statistischen Erfassung. In anderen Untersuchungen liegt Deutschland zwar momentan vorn, das war aber auch schon ganz anders. Die Position schwankt über die Jahre – während sich an der Lohnfortzahlung seit vielen Jahren nichts geändert hat.
Diese Institution infrage zu stellen, erscheine auch ökonomisch wenig sinnvoll, so der Fachmann. Denn Lohnfortzahlung stelle sicher, dass Beschäftigte Krankheiten auskurieren können, und diene damit dem langfristigen Erhalt der Arbeitskraft. Tatsächlich stelle „Präsentismus“, also das Arbeiten trotz Krankheit, ein Problem dar, das in der öffentlichen Debatte viel zu kurz kommt. Vor der Corona-Pandemie waren rund 70 Prozent der Beschäftigten mindestens einmal pro Jahr krank bei der Arbeit, im Schnitt fast neun Arbeitstage. Seitdem dürften die Zahlen angesichts der neuen Homeoffice-Kultur eher noch gestiegen sein. Das sei auch deshalb alarmierend, weil Präsentismus die Gefahr von Unfällen oder Fehlern erhöht und dazu führt, dass Infekte die Runde machen.
Dazu geeignet, Fehlzeiten zu senken und die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten, sind nach Windscheid-Profetas Einschätzung Präventionsmaßnahmen wie Gefährdungsbeurteilungen oder betriebliche Gesundheitsförderung. Allerdings setzen viele Betriebe ihre gesetzlichen Verpflichtungen nicht vollständig oder nur halbherzig um – und schaden damit ihrer Belegschaft und letztlich sich selbst.
Eike Windscheid-Profeta: Krankheitsbedingte Fehlzeiten: Zwischen Bettkanten und dünnen Personaldecken, WSI-Blogserie „Mythen der Sozialpolitik“, Dezember 2024