Quelle: HBS
Böckler ImpulsStreikrecht: "Ohne Streik wäre es kollektives Betteln"
Beschäftigte haben das Recht zu streiken. Das gilt auch und gerade dann, wenn der Arbeitskampf unbequem ist, erklärt Ernesto Klengel vom HSI im Interview.
Immer wieder gibt es Vorstöße, das Streikrecht einzuschränken. Welche Interessen stehen dahinter?
Hier treffen zwei Positionen aufeinander: zum einen überkommene konservative Vorstellungen von einem geordneten Arbeitsleben und dem Unternehmer als alleinigem Inhaber der Weisungsbefugnis, zum anderen wirtschaftsliberale Positionen, die auf niedrige Arbeitskosten zielen und denen streikbedingte Ausfälle ein Dorn im Auge sind. Dabei haben Streiks ein demokratisches Element der Selbstwirksamkeit, weil sich die Beschäftigten ihrer eigenen kollektiven Macht bewusst werden. Wann war das wichtiger als heute? Zudem wäre die Tarifautonomie ohne den Streik nichts anderes als „kollektives Betteln“, wie es das Bundesarbeitsgericht einmal treffend formuliert hat.
Die Tarifautonomie und damit auch das Streikrecht sind im Grundgesetz verankert. Manche fordern, Bereiche der Daseinsvorsorge wie Krankenhäuser oder Kitas davon auszunehmen. Warum?
Die Idee ist, dass Infrastruktur, die für Menschen von grundlegender Bedeutung ist, funktionsfähig bleibt.
Was ja durch Notdienste und Notfallpläne auch im Streikfall sichergestellt wird.
So ist es. Das Problem, das hier an die Wand gemalt wird, entspricht in vielerlei Hinsicht nicht der Realität. Es wird auch argumentiert, dass die Beschäftigten in diesen Bereichen kein wirtschaftliches Risiko tragen, weil ihr Unternehmen in der Regel vom Staat refinanziert wird, und dass sie deshalb keine Entlassungen oder andere Nachteile zu befürchten hätten. Das ist natürlich Unsinn. Selbstverständlich tragen auch Beschäftigte in systemrelevanten Berufen ein wirtschaftliches Risiko, man denke nur an die Insolvenzen von Krankenhäusern oder den Automatisierungsdruck bei der Bahn.
Wenn beispielsweise die Bahn streikt, sorgt das immer für Aufsehen. Ist das nicht auch Sinn und Zweck? Ein Arbeitskampf, den niemand spürt, wäre doch gar keiner.
Ja, zumal die Bahnstreiks auch Sympathien in der Bevölkerung gefunden haben. Darüber hinaus liegt es in der Natur eines Streiks, Sand ins Getriebe der Wirtschaft und des Arbeitslebens zu streuen. Streiks zielen darauf ab, Unternehmen durch die Arbeitsniederlegung zum Einlenken zu bewegen, weil der Betrieb eingeschränkt oder stillgelegt wird und Einnahmen wegbrechen. Dass Kundinnen und Kunden – im Fall der Bahn: die Bahnfahrerinnen und Bahnfahrer – nicht von der Stelle kommen, ist zwar nicht Ziel des Streiks, aber ein hinzunehmender Nebeneffekt.
Wann ist ein Streik zulässig?
Die Rechtsprechung sagt, dass Streiks verhältnismäßig sein müssen. Ob sich dieses Erfordernis wirklich aus dem Gesetz ableiten lässt, erscheint fraglich – wir lesen es dort jedenfalls nicht. Allerdings geben die Gerichte den Gewerkschaften in der Beurteilung, ob ein Streik verhältnismäßig ist, zu Recht einen großen Spielraum. Ob ein Streik erforderlich ist, um die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu verbessern, kann nur die Gewerkschaft selbst beurteilen.
Wo liegen die Schwierigkeiten aus Sicht von Gewerkschaften?
Das Streikrecht wird in Deutschland im Wesentlichen von der Rechtsprechung ausgeformt, wobei es konservative Traditionslinien, aber auch liberalere Fortentwicklungen gibt. Einige Punkte sind ausgesprochen rigide, auch im internationalen Vergleich. So sollen – im Grundsatz – nur „tariflich regelbare Ziele“ erstreikt werden können. Die Rechtsprechung leitet dies aus Artikel 9 des Grundgesetzes ab – diese Vorgabe ist dort so aber gar nicht zu finden. Dort ist nur von „Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ die Rede. Gewerkschaften, die zu einem unzulässigen Streik aufrufen, gehen ein hohes wirtschaftliches Risiko ein, da sie unter Umständen für wirtschaftliche Schäden aufkommen müssen. Das kann sie verständlicherweise davon abhalten, einen Streik zu führen – oder zumindest die Durchführung erschweren.
Wo zeigt sich das in der Praxis?
Wir sehen das aktuell in der Auseinandersetzung um das Streikziel der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen im Einzelhandel. Arbeitgeber im Einzelhandel gehen auf breiter Front gerichtlich gegen Streiks vor. Zur Krönung berufen sie sich dabei auf die sogenannte „Rührei-Theorie“, die von der Rechtsprechung angewandt wird: Wenn von mehreren Streikzielen eines als unzulässig angesehen wird, soll der gesamte Streik rechtswidrig sein. Nach dem Motto: Ein faules Ei verdirbt den ganzen Kuchen. Und: Die Streikziele sollen sich nicht nur aus dem Streikbeschluss ergeben, sondern auch aus sonstigen Äußerungen der Gewerkschaft. Der Arbeitskampf verlagert sich aber auf eine andere, juristische Ebene, wenn selbst Flugblätter rechtlich geprüft werden müssen, bevor sie im Betrieb verteilt werden.
Ernesto Klengel ist wissenschaftlicher Direktor des HSI
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