Quelle: HBS
Böckler ImpulsStaatsfinanzen: Öffentliche Haushalte: Weniger Einnahmen, weniger Investitionen
Niedrigere Steuern, schlanker Staat - die Forderungen sind populär. Dabei hat der deutsche Staat im vergangenen Jahrzehnt bereits tiefe Einschnitte in seine Finanzen erlebt, zeigt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger. Eine Folge: zu wenig Investitionen.
Die Schlankheitskur ist beispiellos - sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich. Zwischen 1999 und 2008 ging die Staatsquote in der Bundesrepublik von 48 Prozent auf 43,5 Prozent zurück. Ebenfalls deutlich gesunken ist in der letzten Dekade die öffentliche Einnahmequote - trotz Mehrwertsteuererhöhung auch während der vergangenen beiden Jahre. Dazu haben vor allem die umfangreichen Steuersenkungen ab dem Jahr 2000 geführt. Die finanzielle Ausstattung des deutschen Staates entwickle sich im internationalen Vergleich weg vom "kontinental-europäischen und skandinavischen Modell" hin zu einer Ländergruppe, "zu der neben angelsächsischen und osteuropäischen Ländern auch Schwellenländer wie die Türkei oder Korea zählen". Das schreibt der Würzburger Wirtschaftsprofessor Peter Bofinger, der dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung angehört. Er warnt: "Schon jetzt ist zu erkennen, dass sich die Entstaatlichung zulasten der Zukunftsinvestitionen in den Bereichen Bildung und Infrastruktur auswirkt", beispielsweise bei den Verkehrswegen. Die geplante Föderalismusreform II dürfte die Erosion noch verschärfen, prognostiziert der Wirtschaftsexperte.
Keine notwendige Folge der Globalisierung. Der Blick auf andere Länder zeigt nach Bofingers Analyse: Die Bundesrepublik geht einen Sonderweg. Ein derartiger Steuerschwund, der zu einer "Entmachtung des Staates" führe, sei "kein generelles, dem Druck der Globalisierung geschuldetes Phänomen", betont der Ökonom. Sowohl in der Gruppe der OECD-Staaten als auch unter den Ländern der EU-15 blieben Einnahmen und Ausgaben während der letzten Dekade weitgehend stabil. Anders als Deutschland hätten die Nachbarländer sogar bei den Unternehmensteuern das Aufkommen gehalten: "Das vielfach befürchtete race to the bottom' ist also ausgeblieben."
In Deutschland sind seit Ende der 90er-Jahre nicht nur die staatlichen Einnahmen deutlich unter den Durchschnitt der EU-15 gesunken, sondern auch die öffentlichen Ausgaben. Pro Einwohner betragen sie nach Bofingers Berechnungen weniger als 20.000 Euro im Jahr. Damit liegt die Bundesrepublik heute zwischen zwei Ländergruppen. Die nord- und westeuropäischen Staaten inklusive Irland und Großbritannien geben mehr aus, die südeuropäischen Länder sowie die Vereinigten Staaten, Kanada oder Japan weniger.
Weniger Investitionen. Bei den Infrastrukturinvestitionen im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung rangiert die Bundesrepublik auf dem vorletzten Platz in der EU-27. Pro Schüler und Student geben die Deutschen weniger Geld aus als ein durchschnittlicher OECD-Staat, unter den 27 EU-Ländern landete Deutschland 2004 bei den öffentlichen Bildungsausgaben auf dem viertletzten Platz. Die Defizite in der Bildungsfinanzierung würden noch dadurch verschärft, dass der Bund bei der Föderalismusreform I seine Kompetenzen an die Länder abgegeben hat, so Bofinger. Diese Zergliederung habe "dazu geführt, dass in Deutschland keine zentrale Bildungsplanung mehr möglich ist."
Trotz des fortschreitenden "Ressourcenentzuges" neige die Politik weiterhin zu "populistischen Steuersenkungsversprechen", schreibt der Ökonom. Sie reagiere damit auch auf Vorurteile bei vielen Bürgern, die nach wie vor glaubten, die öffentliche Hand habe mehr als genug Geld. Ein zentrales Problem werde leicht übersehen: Mangelnde Investitionen schädigen Standort und Wettbewerbsfähigkeit. Die Folgen zeigten sich erst mit einer gewissen Verzögerung. "Doch wenn sie ins allgemeine Bewusstsein dringen, ist der kumulierte Rückstand so groß, dass er nur sehr allmählich und unter großen Anstrengungen wieder aufgeholt werden kann", warnt Bofinger. Für eine sachlichere Debatte empfiehlt er ein "umfassendes internationales Benchmarking staatlicher Leistungen, vor allem im Bereich von wachstums- und nachhaltigkeitswirksamen Maßnahmen" - Bildung, Wissenschaft, aber auch Familien- und Arbeitsmarktpolitik.
Risiko Föderalismusreform II. Eine Föderalismusreform mit einer größeren Steuerautonomie der Länder würde laut Bofinger die Defizite noch verschärfen. Es käme zu einem innerdeutschen Steuersenkungswettlauf und einer weiteren Schwächung der staatlichen Einnahmebasis. Der Wissenschaftler sieht zudem erhebliche Missbrauchsgefahren: Es wäre innerhalb eines Staates schwierig, den überwiegenden Aufenthalt eines Steuerpflichtigen festzustellen. "Gleichzeitig stehen öffentliche Güter, wie z.B. Universitäten, den Bürgern des ganzen Landes zur Verfügung", schreibt Bofinger.
Das Vorhaben, eine "Schuldenbremse" nach Schweizer Vorbild einzusetzen, zwinge die Bundesregierung zu einer prozyklischen Ausgabenpolitik und könne dazu führen, dass "der Bund bei gravierenden weltwirtschaftlichen Schocks nicht mehr voll handlungsfähig ist", warnt der Ökonom. Die Befürworter sagten nicht, dass Deutschland durch die Währungsunion "bereits auf einem wichtigen Feld der Makroökonomie seine Einflussmöglichkeiten verloren hat", so Bofinger. Ebenso wenig erwähnten sie "dass die Schuldenbremse in der Schweiz de facto außer Kraft gesetzt worden ist, als sie im Jahr 2003 erstmals mit einer stärkeren konjunkturellen Abschwächung konfrontiert wurde."
Peter Bofinger: Das Jahrzehnt der Entstaatlichung, in: WSI-Mitteilungen 7/2008