Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitsmarkt: Niedriglohn trotz Vollzeit
Fast ein Fünftel der Beschäftigten kommt trotz Vollzeit nur auf einen niedrigen Monatsverdienst. Regional schwankt die Quote zwischen 6 und 43 Prozent.
Der Anteil der Geringverdienenden unter den Vollzeitbeschäftigten ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen, vor allem in Ostdeutschland. Bundesweit verdienten 2020 aber immer noch knapp 19 Prozent maximal 2284 Euro brutto im Monat und befinden sich damit „im unteren Entgeltbereich“, wie eine Studie des WSI zeigt. Als Geringverdienende gelten Beschäftigte, die trotz Vollzeit weniger als zwei Drittel des mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten erhalten.
Für die Studie haben die WSI-Forscher Eric Seils und Helge Emmler die aktuell verfügbaren Entgeltdaten der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur „Kerngruppe“ der Vollzeitbeschäftigten ausgewertet, in der die große Mehrheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erfasst ist, aber beispielsweise keine Auszubildenden. Die Daten stammen aus Meldungen von Arbeitgebern zur Sozialversicherung und kommen häufig direkt aus der betrieblichen Lohnbuchhaltungssoftware, daher dürften sie nach Einschätzung der Wissenschaftler auch für die Ebene von Stadt- und Landkreisen verlässlich sein. Genaue Arbeitszeiten enthält die BA-Statistik nicht, so dass es nicht möglich ist, Stundenlöhne zu berechnen.
Der Auswertung zufolge gibt es große Unterschiede je nach Region, Geschlecht, Qualifikation und Branche: Während 2020 in Wolfsburg oder Erlangen 6,4 beziehungsweise 8,3 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiteten, galt das etwa in Görlitz oder dem Saale-Orla-Kreis jeweils für mehr als 40 Prozent. Die höchste Quote weist der Erzgebirgskreis mit 43,2 Prozent auf. Unter den Frauen müssen bundesweit 25,4 Prozent mit einem niedrigen Monatseinkommen trotz Vollzeitarbeit auskommen, unter den Männern 15,4 Prozent. Unter Vollzeitbeschäftigten ohne Berufsabschluss sind 40,8 Prozent betroffen, bei denjenigen mit beruflichem Abschluss 17,8 Prozent und Akademiker zu lediglich 4,9 Prozent. Überdurchschnittliche Quoten weisen zudem junge Vollzeitbeschäftigte und solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit auf. Besonders ausgeprägt ist der untere Entgeltbereich in Branchen wie dem Gastgewerbe, der Leiharbeit oder der Land- und Forstwirtschaft.
Deutschlandweit zählten 2020 18,7 Prozent der Vollzeitbeschäftigten zu den Geringverdienenden. Seit 2011 ist dieser Anteil in kleinen Schritten von damals 21,1 Prozent kontinuierlich gesunken, gleichzeitig stieg die statistische Zwei-Drittel-Verdienstgrenze um rund 10 Prozent. Der Rückgang fiel in Ostdeutschland deutlich stärker aus als im Westen, allerdings auf einem viel höheren Ausgangs- und Endniveau. Obwohl sich der Abstand zwischen West und Ost verringerte, bleiben die Differenzen weiterhin groß: Unter den ostdeutschen Stadt- und vor allem den Landkreisen sind Quoten von mehr als 30 Prozent weiterhin relativ häufig. Dagegen bleiben im Westen auch die Regionen mit den höchsten Anteilen unter dieser Marke, wenn auch zum Teil nur knapp. Generell ist Vollzeitarbeit im unteren Entgeltbereich in ländlichen Regionen, in denen es vor allem Kleinbetriebe und eher wenig Industrie gibt, stärker verbreitet.
Vergleichsweise niedrige Quoten sind meist in Städten beziehungsweise Ballungsräumen zu finden, in denen große Arbeitgeber in der Industrie, dem Finanz- und Wissensbereich oder der Verwaltung eine wichtige Rolle spielen. Das gilt neben Wolfsburg und Erlangen beispielsweise auch für Stuttgart, Ingolstadt, Darmstadt, Stadt und Landkreis München, den Kreis Böblingen und Städte wie Salzgitter, Ludwigshafen, Frankfurt am Main, Karlsruhe oder Bonn, wo zwischen rund 9 und rund 11 Prozent der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiten. Ländliche Regionen mit relativ niedrigen Quoten finden sich am ehesten in Baden-Württemberg. Unter den größten deutschen Städten weisen auch Köln, Düsseldorf und Hamburg Geringverdiener-Anteile deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 18,7 Prozent auf, während Berlin mit 19,2 Prozent knapp darüber liegt.
Stadt- und Landkreise mit hohen Wohnkosten weisen laut der Analyse niedrigere Anteile von Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich auf. „In Regionen mit hohen Mieten sind zumeist auch die Löhne höher. Das bedeutet aber nicht unbedingt mehr Kaufkraft für die Beschäftigten, weil die Mieten und Preise den höheren Lohn gleichsam auffressen“, sagt WSI-Forscher Seils.
„Unsere Analyse zeigt einerseits einige positive Tendenzen: In den letzten Jahren ist es gelungen, den unteren Entgeltbereich zurückzudrängen“, fasst sein Forscherkollege Emmler die Befunde zusammen. Dies gelte insbesondere für Ostdeutschland. Allerdings sei vor allem dort der untere Entgeltbereich weiterhin stark verbreitet und zugleich die Tarifbindung weit niedriger als im Westen. „Die geplante Anhebung des Mindestlohnes auf 12 Euro ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Um hier weiterzukommen, ist darüber hinaus eine Stärkung der Tarifbindung erforderlich“, so Emmler.
Eric Seils, Helge Emmler: Der untere Entgeltbereich, WSI Policy Brief Nr. 65, Januar 2022