Quelle: HBS
Böckler ImpulsMakroökonomie: Neustart für das Stabilitätsgesetz
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus den 1960er-Jahren ist modernisierungsbedürftig. Es sollte durch ein Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz ersetzt werden.
Hoher Beschäftigungsstand, stabile Preise, ausgeglichener Außenhandel, angemessenes und stetiges Wachstum: Auf diese Ziele verpflichtete Wirtschaftsminister Karl Schiller die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik 1967 mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Außer den oft als Magisches Viereck bezeichneten Zielen der Wirtschaftspolitik enthält das Gesetz eine Reihe finanzpolitischer Instrumente, die es der Politik ermöglichen, auf Konjunktureinbrüche zügig zu reagieren. So sank die in der ersten Nachkriegsrezession auf 2,1 Prozent gestiegene Arbeitslosenquote auch dank der neuen Wirtschaftspolitik schon 1968 wieder unter ein Prozent.
Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, gilt das Stabilitätsgesetz formell zwar immer noch, es wird aber kaum mehr beachtet. Das hat zwei Gründe, wie der Ökonom Willi Koll, früherer Ministerialdirigent im Wirtschafts- und Finanzministerium und ehemaliges Mitglied internationaler wirtschaftspolitischer Gremien, erläutert. Erstens ignorierte der angebotsorientierte Mainstream der Wirtschaftspolitik das Gesetz in den vergangenen Jahrzehnten, weil es vor allem auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zielt. Zweitens erscheinen die Auswahl der Zielgrößen und sein fiskalpolitisch verengtes Instrumentarium heute nicht mehr zeitgemäß. Vor allem fehlt das Kriterium Nachhaltigkeit – in ökologischer wie sozialer Hinsicht.
Ferner müsse die Vertiefung der europäischen Integration berücksichtigt werden: zum Beispiel Währungsunion, Stabilitätspakt, Ungleichgewichtsverfahren und Europa-2020-Strategie. Schließlich, so Koll, gelte es, aus der Vielzahl der Vorschläge geeignete Zielgrößen und Indikatoren herauszufiltern. Dazu hat er Berichte verschiedener nationaler und internationaler Expertenkommissionen ausgewertet. So kommen 40 potenziell nützliche Indikatoren zusammen, vom Armutsrisiko über Biodiversität und Lebenszufriedenheit bis zur fiskalischen Nachhaltigkeitslücke.
Ein konsensfähiges Modell dürfte sich Koll zufolge relativ einfach aus dem Entwurf von Eckwerten für ein „Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetz“ (WNG) der Ökonomen Till van Treeck und Sebastian Dullien ableiten lassen. Er decke vieles ab, was auch in anderen Experten-Vorschlägen – etwa von den Nobelpreisträgern Joseph Stiglitz und Amartya Sen – zur Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik enthalten ist. Das WNG sieht – als neues Magisches Viereck – vier Oberziele vor:
- Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit: Förderung hoher Beschäftigung und Produktivität bei ausreichendem privatem und öffentlichem Konsum unter Begrenzung des Leistungsbilanzsaldos.
- Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen: Einhaltung von Defizitgrenzen und Schuldenabbau. Ausreichende öffentliche Investitionen.
- Soziale Nachhaltigkeit: Vermeidung einer inakzeptablen Polarisierung bei Einkommen und Vermögen, Bildungsinvestitionen für höhere Chancengleicheit.
- Ökologische Nachhaltigkeit: Struktureller Wandel hin zu einer umweltneutralen Wirtschaftsweise.
Kritiker eines derart ausgeweiteten und verbindlichen wirtschaftspolitischen Zielkatalogs monieren, die verschiedenen Anforderungen könnten in Widerspruch zueinander geraten. Zudem könnte die Komplexität eines entsprechenden Gesetzes die Politik überfordern. Dem hält Koll entgegen: „Gerade die Offenlegung von Wechselwirkungen zwischen einzelnen Nachhaltigkeitszielen zeigt Gesellschaft und Politik Entscheidungs- und Handlungsbedarf auf“. Zudem sei eine „auf Synergie gerichtete Wirtschaftspolitik“ durchaus in der Lage, in allen Bereichen gleichzeitig Verbesserungen zu erreichen. „Friktionen“, die sich am ehesten ergeben könnten, wenn sich der Abbau umweltschädlicher Produktionsstrukturen schneller vollzieht als der Aufbau neuer Beschäftigung in der Umweltwirtschaft, könnten durch eine insgesamt beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik aufgefangen werden.
Die Idee, das Stabilitätsgesetz zu modernisieren, ist im Übrigen nicht aus der Luft gegriffen: Die amtierende Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, sie wolle „das bestehende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz überprüfen“. Dazu hat sie den Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung, die sogenannten Wirtschaftsweisen, um eine Stellungnahme gebeten. Deren Vorschlag lautete allerdings: Es soll alles so bleiben, wie es ist.
Kolls Alternativvorschlag: Das Stabilitätsgesetz könne beibehalten und künftig als Ausführungsgesetz zur Erreichung des ersten Oberziels „Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit“ des überwölbenden Wohlstands- und Nachhaltigkeitsgesetzes betrachtet werden.
Willi Koll: Vom Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zum Wohlstands- und
Nachhaltigkeitsgesetz , Wirtschaftsdienst 1/2016