Quelle: HBS
Böckler ImpulsCorporate Governance: Neue Regeln durch die Hintertür
Besonders ausländische Investoren ziehen häufig Stimmrechtsberater hinzu, wenn sie auf Hauptversammlungen deutscher Unternehmen abstimmen. Eine problematische Entwicklung.
Institutionelle Investoren, insbesondere Indexfonds, haben ihren Anteil an DAX-Konzernen und ihre Präsenz auf den Hauptversammlungen deutscher börsennotierter Unternehmen in den vergangenen Jahren ausgebaut. Damit wächst auch der Einfluss von sogenannten Stimmrechtsberatern. Vor allem ausländische Finanzinvestoren ziehen bei ihrer Stimmabgabe häufig spezialisierte Beratungsunternehmen hinzu. In drei von vier Fällen ist mindestens ein Stimmrechtsberater im Spiel, wenn ausländische institutionelle Investoren auf Hauptversammlungen von Unternehmen abstimmen, die im Prime Standard der Deutschen Börse notiert sind. Das zeigt eine vom I.M.U. geförderte Studie der Wirtschaftsprofessoren Wolfgang Bessler und Marc Steffen Rapp. Die Entwicklung ist nach Einschätzung des I.M.U. unter anderem kritisch, weil sowohl die Fondsbranche als auch die Branche der Stimmrechtsberater hoch konzentriert sind.
Die Stimmrechtsberatung dominieren Institutional Shareholder Services, eine Tochter der Deutschen Börse AG, sowie Glass Lewis, eine Firma, die sich in den Händen zweier kanadischer Pensionsfonds befindet. Dass damit lediglich zwei privatwirtschaftliche Branchenschwergewichte „de facto Standards für Unternehmensführungsprinzipien in den großen börsennotierten Gesellschaften weltweit setzen, erscheint angesichts des breiten öffentlichen Interesses an diesen Unternehmen als problematisch“, so das I.M.U. Die Experten befürchten, dass die beiden Unternehmen durch die Festlegung von Abstimmungsrichtlinien, sogenannten Voting Guidelines, für die von ihnen gehaltenen oder beratenen Unternehmen die Rolle von „Quasi-Gesetzgebern“ im Bereich der Corporate Governance übernommen haben. Die Guidelines würden in Konkurrenz zum Deutschen Corporate Governance Kodex treten und damit dessen „gesetzlich legitimierten Geltungsanspruch unter Druck“ setzen.
Eine Corporate Governance im Sinne von Mitbestimmung und sozialer Marktwirtschaft sei von dieser Entwicklung nicht zu erwarten, warnt das I.M.U. Das Organ Hauptversammlung institutionell zu stärken, worauf etwa der Vorschlag abzielt, Beschlüsse über die Vorstandsvergütung dorthin zu verlagern, sei vor diesem Hintergrund nochmals kritischer zu sehen.
Wolfgang Bessler, Marc Stefan Rapp: Die Hauptversammlung im Zeitalter institutioneller Investoren, Mitbestimmungsreport Nr. 72, Februar 2022