Quelle: HBS
Böckler ImpulsWirtschaftspolitik: Neue Maßstäbe für Wohlstand
Wohlstand bedeutet heutzutage mehr als stabile Preise, Wachstum und Beschäftigung. Ein schonender Umgang mit der Natur und der Abbau sozialer Ungleichheit spielen ebenfalls eine Rolle.
Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Karl Schiller, damals Wirtschaftsminister in der Großen Koalition, die wirtschaftspolitischen Ziele des „Magischen Vierecks“ formulierte: ein stabiles Preisniveau, ein hoher Beschäftigungsstand und ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht in Verbindung mit einem angemessenen und stetigen Wirtschaftswachstum. Gilt dieser Handlungsrahmen noch? Oder muss eine Gesellschaft heute neue Ziele entwickeln, um ihre Zukunft zu sichern?
Mit diesen Fragen haben sich Sebastian Dullien, Wirtschaftsprofessor an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, und IMK-Forscher Till van Treeck eingehend auseinandergesetzt. Dabei herausgekommen ist ein „neues magisches Viereck für das 21. Jahrhundert“: nachhaltige Staatsfinanzen, nachhaltiger Wohlstand, soziale und ökologische Nachhaltigkeit.
Die beiden Wirtschaftswissenschaftler verfolgen das Ziel, einen übergreifenden „sozial-ökologischen“ Rahmen zu entwickeln, der aber direkt beim aktuellen politischen und ökonomischen Status Quo anschließt. Deshalb bewegen sich ihre Überlegungen bewusst innerhalb der internationalen Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist. Dazu gehören insbesondere
- das „Six Pack“ zur stärkeren Koordinierung von Fiskal- und Wirtschaftspolitik im Euroraum;
- der Fiskalpakt, der Verschuldungsregeln des „Six Pack“ in einem völkerrechtlichen Vertrag fixiert;
- der Euro-Plus-Pakt zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Union und
- die Europa-2020-Strategie der EU-Staaten auf den Themenfeldern Beschäftigung, Armutsbekämpfung, Bildung, Forschung und Klimaschutz.
Diese Vorgaben beinhalten bereits einen Teil der von Dullien und van Treeck definierten Nachhaltigkeitsziele. Allerdings weisen sie „eine inhaltlich kaum zu rechtfertigende Hierarchie“ auf, kritisieren die beiden Forscher. So drohen beim Verletzen von Verschuldungsregeln empfindliche Strafen, die Verpflichtungen zum Klimaschutz hingegen „sind nicht mehr als Absichtsbekundungen der europäischen Regierungen, ohne Sanktionsmöglichkeiten“. Dabei habe ökologische Nachhaltigkeit mindestens ebenso großen Einfluss auf den Wohlstand künftiger Generationen wie eine Begrenzung der Schulden.
Zudem fehlten den bislang geltenden Vereinbarungen wichtige Indikatoren, ohne die sich Nachhaltigkeit überhaupt nicht messen lasse. Dazu zählen van Treeck und Dullien die private Verschuldung – „wie uns die US-Subprime-Krise ebenso wie die Euro-Krise in Ländern wie Irland und Spanien jüngst schmerzhaft vor Augen geführt hat“. Nicht-nachhaltige Verschuldungstrends des Privatsektors spielten beim „Six Pack“ nur eine untergeordnete Rolle, kritisieren die beiden Ökonomen. Auch das Ziel der sozialen Nachhaltigkeit verdiene mehr Beachtung. Denn wachsende Ungleichheit in der Verteilung von Einkommen und Vermögen schwäche entweder die Konsumnachfrage oder treibe die privaten Haushalte in die Verschuldung.
Die vier wirtschaftspolitischen Oberziele in ihrem neuen magischen Viereck sollten gleichberechtigt sein, betonen die Forscher – und sich anhand quantitativer Indikatoren konkret messen lassen. Ihre Vorschläge zu den einzelnen Zielen:
Materieller Wohlstand und ökonomische Nachhaltigkeit. Ein hohes Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsvolumen sind weiterhin wichtige Maßstäbe, so van Treeck und Dullien. Allerdings stünden diese im Konflikt mit dem Ziel des Umweltschutzes. Daher müsse jede Regierung eine Strategie entwickeln, wie damit umzugehen ist. Hinzu kommen als Indikatoren die privaten und staatlichen Konsumausgaben und ein symmetrisches Leistungsbilanzziel: Maximal drei Prozent Defizit beziehungsweise Überschuss halten die Wissenschaftler für ungefährlich. Denn: „Wie derzeit in der Euro-Krise deutlich zu sehen, bringen übermäßige Leistungsbilanzungleichgewichte die Gefahr von Schuldenkrisen mit sich, die den bislang erreichten Wohlstand gefährden.“ Und das gilt nicht nur für die Schuldner-, sondern auch für die Gläubigerstaaten.
Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen. Hier sind einige Indikatoren bereits fest vorgegeben: Die Regeln der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse sowie Verpflichtungen auf europäischer Ebene, zum Beispiel aus dem Fiskalpakt. Als zusätzliche Messgröße empfehlen die beiden Wirtschaftswissenschaftler die Nettoinvestitionen des Staates. Denn zu geringe Investitionen in öffentliche Gebäude, Straßen oder das Schienennetz gefährdeten auf Dauer die Funktionsfähigkeit des Staates und dessen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand.
Soziale Nachhaltigkeit. Zentral sind hier zwei Verteilungsindikatoren: die Armutsquote und das Verhältnis zwischen den verfügbaren Haushaltseinkommen des obersten und des untersten Fünftels der Bevölkerung. Verbessern ließe sich die Verteilungssituation aus Sicht der Forscher über einen Mindestlohn zur Verringerung der Lohnspreizung, Quotenregelungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit sowie steuerpolitische Maßnahmen.
Ökologische Nachhaltigkeit. Für dieses Ziel haben Dullien und van Treeck die bereits vorhandenen Vorgaben berücksichtigt, also die Reduzierung der Treibhausgasemissionen, den Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Verringerung des Primärenergieverbrauchs.
Als „Kernelement eines sozial-ökologischen Wohlstandsprojekts“ sehen die beiden Ökonomen allerdings das Thema soziale Gerechtigkeit mit einem besonderen Fokus auf die Einkommensverteilung. Denn die akademische Debatte habe „die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen zunehmend als ‚Megathema‘ im Zusammenhang mit den Oberzielen materieller Wohlstand, sozialer Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit identifiziert“. So seien zum Beispiel umfassende Arbeitszeitverkürzungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen unumgänglich, aber nur auf Basis einer gleichmäßigen Einkommensverteilung durchsetzbar.
Sebastian Dullien, Till van Treeck: Ziele und Zielkonflikte der Wirtschaftspolitik und Ansätze für einen neuen sozial-ökologischen Regulierungsrahmen (pdf), Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2012