Quelle: HBS
Böckler ImpulsTarifpolitik: Neue Chancen für Tariftreue
Nach einem Urteil des EuGH liegen die meisten Tariftreuegesetze in Deutschland auf Eis. Eine europarechtskonforme Regelung wäre aber möglich - und die anstehende Modernisierung des Bundesvergabegesetzes ein Anknüpfungspunkt.
Für Tarifexperten wie Thorsten Schulten vom WSI stellt der 3. April 2008 eine Zäsur da. An diesem Tag entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) überraschend, die Tariftreueklausel im niedersächsischen Vergaberecht widerspreche der europäischen Dienstleistungsfreiheit. Zentrales Argument des Gerichts: Niedersachsen hätte Unternehmen die Einhaltung des örtlichen Tarifs nur dann vorschreiben dürfen, wenn dieser durch eine staatliche Allgemeinverbindlicherklärung für alle gelte. Folge: "Die meisten Bundesländer haben ihre Tariftreueregelungen derzeit ausgesetzt oder wenden sie nur in sehr eingeschränktem Maße an", beobachtet Schulten.
Der Richterspruch aus Luxemburg stoppte einen Trend zu solchen Normen: Zum Zeitpunkt der EuGH-Entscheidung hatten acht von 16 Bundesländern Tariftreueregelungen eingeführt, zwei weitere hätten eigentlich in diesem Jahr nachziehen wollen, so Schulten. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2006 in einem Grundsatzurteil Tariftreuevorschriften für verfassungskonform erklärt. Der Gesetzgeber verfolge damit verfassungsrechtlich legitime Ziele. Dazu zählten die Karlsruher Richter unter anderem die Verhinderung "eines Verdrängungswettbewerbs über die Lohnkosten", die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Entlastung der sozialen Sicherungssysteme. Auch "die Unterstützung des Tarifvertragssystems als Mittel zur Sicherung sozialer Standards" führten sie auf. Die Aussetzung der Tariftreuenormen nach dem EuGH-Spruch führt nun nach Schultens Analyse in ein Dilemma: Ausgerechnet der Staat müsse durch seine Auftragsvergaben faktisch "zur weiteren Erosion des Tarifvertragssystems beitragen, da er normalerweise gezwungen ist, das günstigste Angebot anzunehmen, und damit nicht-tarifgebundenen Unternehmen einen strukturellen Wettbewerbsvorteil einzuräumen."
Doch der Wissenschaftler sieht auch Möglichkeiten für einen europarechtskonformen Neubeginn. Die Bundesregierung hat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit dem das deutsche Vergaberecht modernisiert werden soll. Darin steht, dass an den Auftragnehmer zusätzliche Anforderungen gestellt werden können. "die insbesondere soziale, umweltbezogene oder innovative Aspekte betreffen". Schulten empfiehlt in einer Stellungnahme zu einer Anhörung des Deutschen Bundestages, aus der Kann- eine weitergehende Muss-Bestimmung zu machen. Die Regierung solle so "die Chance nutzen und eine bundesweit einheitliche Tariftreueregelung einführen", schreibt der WSI-Experte.
Um die Anforderungen des EuGH zu erfüllen, müsse sich die bundesweite Tariftreue-Norm in einem ersten Schritt "auf alle nach dem Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärten Mindestlohntarifverträge" beziehen, so Schulten. Solche Tarifverträge gelten derzeit für rund 1,7 Millionen Beschäftigte, vor allem auf dem Bau, im Gebäudereinigerhandwerk und bei den Briefdiensten. Der Geltungsbereich der Tariftreueregelungen könnte dann wachsen, wenn weitere Branchen in das Entsendegesetz aufgenommen würden, schreibt Schulten. Auch innerhalb der erfassten Branchen ließe sich die Bindungskraft der Tariftreueregelungen erweitern, indem bei der Allgemeinverbindlicherklärung nicht nur die untersten Lohngruppen, sondern die gesamte Lohntabelle mit aufgenommen werde.
Darüber hinaus hält es der Wissenschaftler für überlegenswert, Allgemeinverbindlicherklärungen insgesamt zu vereinfachen. "Viele andere europäische Staaten nutzen die Allgemeinverbindlichkeit zur Stabilisierung ihres Tarifvertragssystems." Beispielsweise würden in den Niederlanden etwa 70 Prozent, in Frankreich sogar 90 Prozent aller Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt, schreibt Schulten. In Deutschland sind es nur 1,5 Prozent aller Ursprungstarifverträge. Oft scheitern Allgemeinverbindlicherklärungen am Widerstand der Arbeitgeberverbände, die in Deutschland ein Veto einlegen können.
Schließlich könne die deutsche Politik auch auf europäischer Ebene aktiv werden, so Schulten. Das Europäische Parlament hat in seinem so genannten Andersson-Bericht festgehalten, dass in der EU wirtschaftliche Grundfreiheiten nicht vor sozialen Grundrechten rangieren dürften. Die Bundesregierung könne sich dieser Position öffentlich anschließen und ihr zu mehr praktischer Wirksamkeit verhelfen, indem sie sich für entsprechende Präzisierungen in der EU-Entsenderichtlinie einsetze.
Thorsten Schulten: Stellungnahme zum Vergaberecht (pdf), Anhörung im Deutschen Bundestag am 13.10.2008