Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Nachholbedarf bei Löhnen
Während einige Unternehmen ihre Gewinne steigern konnten, sanken die Reallöhne. Auch heute liegen sie noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau.
Die Beschäftigten in der EU haben im vergangenen Jahr erneut an Kaufkraft eingebüßt: Trotz stärkerer Nominallohnzuwächse und abgeschwächter Inflation sanken die Reallöhne im EU-Durchschnitt um 0,6 Prozent, nach einem Minus von 4,2 Prozent im Jahr 2022. Zu diesem Ergebnis kommt der neue Europäische Tarifbericht des WSI, für den unter anderem die neuesten verfügbaren Daten der EU-Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung ausgewertet wurden. In Deutschland sanken die Reallöhne 2023 um 0,3 Prozent, nach einem Verlust von 4,4 Prozent im Vorjahr. Unter dem Teuerungsschock haben auch die Tariflöhne gelitten, die Ende 2023 in wichtigen EU-Ländern preisbereinigt unter dem Niveau von 2015 lagen. Dies gilt auch für Deutschland, wo der Wert von 2015 um 0,8 Prozent unterschritten wurde. Für das laufende Jahr zeichnen sich nach Einschätzung der EU-Kommission zwar in 26 von 27 EU-Staaten Reallohnzuwächse ab. Im EU-Durchschnitt rechnen die Expertinnen und Experten mit einem Anstieg der realen Bruttolöhne um 2,0 Prozent. Die Verluste der vergangenen Jahre werden damit aber bei weitem nicht ausgeglichen.
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Eine EU-weite „langsame Erholung“ der Kaufkraft stärke die Binnennachfrage, schreiben die WSI-Experten Malte Lübker und Thilo Janssen. Aus Sicht der Beschäftigten sei damit aber „die Krise nicht überwunden: Sie haben den Großteil der realen Einkommenseinbußen getragen, die mit dem Energiepreisschock infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine verbunden waren“. Das lässt sich nach Analyse der Forscher beispielsweise auch an der Lohnquote ablesen: Zwischen 2021 und 2023 sank der Anteil der Lohneinkommen am Volkseinkommen im EU-Durchschnitt von 55,4 Prozent auf 54,8 Prozent. In Deutschland fiel der Rückgang mit 0,9 Prozentpunkten von 58,0 auf 57,1 Prozent sogar noch etwas stärker aus.
In Deutschland wie in vielen anderen EU-Ländern konnten einige Unternehmen während der Teuerungswelle ihre Gewinnmargen erhöhen. Dies trug – im Gegensatz zur Lohnentwicklung – zwischenzeitlich erheblich zum Preisauftrieb bei. „Eine Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen war die Folge“, konstatieren die WSI-Forscher. Auch wenn die Lohnquote in diesem Jahr wieder auf ihr Ausgangsniveau steigen dürfte, sehen die Wissenschaftler bei der Lohnentwicklung „noch Nachholbedarf, um zu einer gerechteren Lastenverteilung zwischen Arbeit und Kapital beizutragen“. Schließlich seien die Verbraucherpreise dauerhaft erhöht, sie stiegen mit dem Abebben der Inflationswelle nur nicht mehr so schnell.
Ein weiteres Lohnwachstum, das kurzfristig auch oberhalb des rechnerischen Verteilungsspielraums aus Inflation und Produktivitätswachstum liegen könne, sei gesamtwirtschaftlich wichtig, „um den privaten Konsum zu fördern und damit die Konjunktur zu stützen“, schreiben Lübker und Janssen. Mit zunehmender konjunktureller Erholung und höherer Auslastung der Unternehmen werde auch das Produktivitätswachstum wieder stärker zunehmen. Die EU-Kommission prognostiziert für das kommende Jahr 1,2 Prozent im EU-Durchschnitt.
Thilo Janssen, Malte Lübker: Europäischer Tarifbericht des WSI 2023/2024: Reallöhne haben nach Krisenverlusten weiterhin Aufholbedarf, WSI-Report 96, Juli 2024