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Mitbestimmung gilt über Landesgrenzen hinaus Böckler Impuls

Betriebsverfassung: Mitbestimmung gilt über Landesgrenzen hinaus

Ausgabe 02/2021

Den Anwendungsbereich der Betriebsverfassung nach dem Territorialitätsprinzip zu bestimmen, wie es das Bundesarbeitsgericht tut, ist verfehlt. Mitbestimmung reicht weiter.

Läuft die Mitbestimmung ins Leere, wenn die Zentrale des Arbeitgebers im Ausland liegt? Reicht der Geltungsbereich der Betriebsverfassung nur bis zu den Landesgrenzen? Das sind Fragen, die in einer globalisierten Wirtschaft stetig an Bedeutung gewinnen. Schon im Jahr 2017 gab es in Deutschland laut Statistischem Bundesamt über 36 000 Unternehmen mit 3,6 Millionen Beschäftigten, die zu einer Muttergesellschaft mit Sitz im Ausland gehörten. Hinzu kommen zahlreiche Entsendungen von Arbeitnehmern in andere Länder. Es sei „nicht zu übersehen, dass die territoriale Begrenztheit der Betriebsverfassung in einer derart globalisierten Welt der Effektivität der betrieblichen Interessenvertretung abträglich ist“, schreibt der Göttinger Juraprofessor Olaf Deinert in einem Gutachten für das HSI. Er hat untersucht, ob der Geltungsbereich der betrieblichen Mitbestimmung tatsächlich so eng gefasst ist, wie es jüngere Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) nahelegen. Ergebnis: Das vom BAG zugrunde gelegte Territorialitätsprinzip ergibt sich weder zwingend aus der Gesetzeslage, noch ist es in der Praxis widerspruchsfrei anwendbar. 

Das Territorialitätsprinzip besagt: Der „räumliche Anwendungsbereich“ des Betriebsverfassungsrechts ist Deutschland. Die Betriebsverfassung regele die Interessenvertretung im Inland beschäftigter Arbeitnehmer gegenüber Arbeitgebern im Inland, weiter reichten nun einmal die Befugnisse des deutschen Gesetzgebers nicht. Dass diese Interpretation praktisch nicht durchzuhalten ist, liegt laut Deinert auf der Hand. Selbstverständlich wirke die Betriebsverfassung auch über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus: Ein Zirkus, der im Ausland auftritt, „wandert dadurch nicht aus dem Betriebsverfassungsgesetz heraus“. Und natürlich bleibt der Betriebsratsvorsitzende Vorsitzender des Betriebsrats, wenn er auf Dienstreise im Ausland ist. Ins Ausland entsandte Arbeitnehmer können weiterhin an der Betriebsratswahl teilnehmen. 

Echte Probleme gibt es, wenn die Konzernleitung nicht in Deutschland sitzt. Dann kann zum Beispiel – so sieht es das dem Territorialitätsprinzip folgende BAG – kein Konzernbetriebsrat gebildet werden, der dem Konzernmanagement oberhalb der Ebene der Einzelunternehmen Paroli bieten kann. Die deutschen Mitbestimmungsvorschriften seien nicht auf Konzernobergesellschaften im Ausland anzuwenden. Wie man etwa im Fall des Windkraftanlagen-Herstellers Enercon gesehen hat, führt es aber zu erheblichen Schwierigkeiten, wenn sich die einzelnen Betriebsräte bei massivem Stellenabbau nicht über eine Struktur wie dem Konzernbetriebsrat untereinander abstimmen können. Der Sichtweise des BAG liegt Deinert zufolge jedoch ein „folgenschwerer Denkfehler zugrunde“. Aus dem Gesetz ergebe sich dessen Schlussfolgerung keinesfalls, stattdessen leite das Gericht den vermeintlich auf Deutschland beschränkten Einfluss der Mitbestimmung in fragwürdiger Weise aus anderen Quellen ab. Außerdem setze sich das BAG in Widerspruch zu seiner eigenen Aussage, dass Mitbestimmung dort ausgeübt werden müsse, „wo sich unternehmerische Leitungsmacht konkret entfaltet und ausgeübt werde“ – in diesem Fall auf Konzernebene. Faktisch erweise sich das Territorialitätsprinzip hier als „Mittel zur partiellen Flucht aus der betrieblichen Mitbestimmung“, so Deinert. Internationale Unternehmen könnten die entsprechende Entscheidungsebene ins Ausland verlagern und damit die Bildung eines Konzernbetriebsrats verhindern beziehungsweise seine Auflösung erzwingen.

Um den Geltungsbereich des Betriebsverfassungsrechts sachgerecht zu bestimmen, schlägt der Jurist anstelle des Territorialitätsprinzips einen „kollisionsrechtlichen“ Ansatz vor. Dabei sei der Ausgangspunkt nicht die Frage, wo deutsches Recht ende, sondern: Welches Recht ist auf einen Sachverhalt mit Auslandsbeziehungen anwendbar? Von daher könne die Betriebsverfassung durchaus Wirkungen im Ausland entfalten, sofern der Ausgangspunkt Betriebe im Inland seien. Im Beispiel steht der Errichtung eines Konzernbetriebsrats nichts entgegen.

Olaf Deinert: Betriebsverfassung in Zeiten der Globalisierung (pdf), HSI-Schriftenreihe, Band 38, Dezember 2020

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