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HBS Böckler Impuls

Arbeitswelt: Mit dem Smartphone am Krankenbett

Ausgabe 15/2015

Alle reden von der Industrie 4.0. Doch Digitalisierung und verstärkter Technikeinsatz spielen auch in sozialen Berufen eine immer größere Rolle. Mögliche Folgen haben Forscher am Beispiel der Altenpflege untersucht.

Die Vorstellung ist gleichermaßen faszinierend wie furchterregend: In Zukunft werden Senioren nicht mehr von Menschen, sondern von Robotern gepflegt. Japanische Firmen haben bereits Maschinen mit starken Armen und großen Kulleraugen entwickelt, die Patienten aus dem Bett heben und in den Rollstuhl setzen können. Vom praktischen Einsatz in Deutschland sind solche Gerätschaften zwar noch weit entfernt, schreiben Volker Hielscher, Lukas Nock und Sabine Kirchen-Peters in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung. Dennoch spielt Technik in der Altenpflege schon heute eine große Rolle und wird den Alltag von Pflegebedürftigen und Pflegekräften in den kommenden Jahren deutlich verändern, erwarten die Wissenschaftler vom Saarbrücker Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft.

Gab es im Jahr 2013 rund 2,6 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland, werden es 2030 nach Prognosen des Statistischen Bundesamtes weit mehr als drei Millionen sein. In der Altenpflege arbeitet derzeit etwa eine Million Menschen und es herrscht dramatischer Fachkräftemangel. Die Arbeit ist körperlich wie psychisch anstrengend und muss häufig unter so großem Zeitdruck erledigt werden, dass die Beschäftigten ihren eigenen professionellen Ansprüchen dabei nicht gerecht werden können. So scheidet die große Mehrheit der Pflegekräfte vorzeitig aus dem Beruf aus – frustriert und gesundheitlich angeschlagen.

Angesichts dieser Lage ist jede Technik willkommen, die Patienten nützt und Pflegekräften die Arbeit erleichtert. Nach den empirischen Studien der Forscher gibt es vor allem vier Anwendungsgebiete für moderne Technologie: Personenlifter, elektronische Akten, GPS-Überwachung von Demenzkranken und intensivmedizinische Apparaturen, die zuhause aufgestellt werden.

Die Fallstudien zeigen, so die Forscher, dass vermehrter Technikeinsatz „eine Entlastung der Pflegekräfte und eine Verbesserung der Pflegequalität befördern“ kann. Im ungünstigsten Fall kann er aber „unter dem alltäglichen Ökonomisierungsdruck sozialer Dienstleistungsarbeit auch als effizienzfunktionales ,Schmiermittel‘ zu einem ,Weiter-so‘ der Pflege unter widrigen Bedingungen
beitragen“. Ob das Potenzial neuer Technologien letztlich den Beschäftigten und Gepflegten zugutekommt, hänge von der politischen und betrieblichen Gestaltung ab.

Auf politischer Ebene sind zum Beispiel Finanzierungsfragen zu klären. So sind im Pflegesektor viele kleine und mittelständische Unternehmen mit dünner Kapitaldecke aktiv. Aber auch für größere Einrichtungen stellen etwa Investitionen in komplexe EDV-Systeme eine erhebliche Belastung dar.

Auf betrieblicher Ebene ist entscheidend, dass die Technik nutzerfreundlich, an die Bedürfnisse der Beschäftigten angepasst und wirklich in den Arbeitsalltag integrierbar ist. Wenn die eigentliche Arbeit am Patienten aus Sicht des Personals nur gestört wird, weil ständig irgendwelche Daten in die virtuelle Krankenakte eingetragen werden müssen, ist nichts gewonnen. Außerdem ermöglicht eine präzisere Dokumentation automatisch eine genauere Überwachung der Mitarbeiter; hier besteht Regelungsbedarf. Das Programmieren entsprechender Software ist stets ein Balanceakt: Zu viele Optionen erzeugen Frust bei den Anwendern, zu viel Standardisierung kann letztlich zu einer Fließband-Pflege führen, die keinen Raum für individuelle Versorgung mehr lässt.

Auch bei anderen technischen Arbeitsmitteln stehen den Vorteilen gewisse Nachteile gegenüber. Personenlifter etwa erlauben es Pflegerinnen selbstständiger zu arbeiten. Sie müssen nicht mehr auf andere Kollegen warten, bevor ein schwerer Patient angehoben werden kann. Die Kehrseite: Jeder arbeitet für sich und der fachliche Austausch geht zurück.

Akzeptanz muss neue Technik nicht nur bei den Beschäftigten, sondern auch bei den Pflegebedürftigen finden. Sie müssen ein gewisses Vertrauen in die Apparate entwickeln, andernfalls begeben sie sich nur ängstlich und unter Protest in die „Arme“ einer Maschine, die sie aus dem Bett hebt. Gelingt es jedoch, Berührungsängste abzubauen, kann der Einsatz von Personenliftern sogar in emotionaler Hinsicht von Vorteil sein: Manchen älteren Menschen ist es unangenehm, sich von anderen tragen, heben und drehen zu lassen; die Technik kann hier eine durchaus gewünschte Distanz schaffen.

Das Beispiel verdeutlicht den entscheidenden Unterschied zwischen sozialer Interaktionsarbeit und der Welt der Produktfertigung beim Technologieeinsatz: Die Technik funktioniert nur, wenn sie von allen Beteiligten wirklich als nützlich empfunden wird. Ihre Vorzüge müssen geduldig erklärt werden. Das aber kostet Zeit. Zeit, die fehlt, wenn mögliche Effizienzsteigerungen zum Personalabbau genutzt werden.

Personenlifter

Pflegebedürftige aufzurichten oder umzubetten, ist Schwerstarbeit. Um Überlastungen zu vermeiden, müssten oft mehrere Pflegekräfte gemeinsam zupacken. Zeitdruck und Personalmangel lassen dies aber nicht zu. Entsprechend häufig sind Rückenprobleme bei Pflegekräften; ein Viertel ihrer Fehltage geht auf Muskel- und Skeletterkrankungen zurück. Daher sind in Altenheimen inzwischen diverse elektrische Hebe- und Tragesysteme im Einsatz. Das Potenzial ist jedoch längst nicht ausgeschöpft. Die Geräte der ersten Generation waren oft laut, sperrig, unflexibel – und stießen damit bei Patienten und Pflegerinnen gleichermaßen auf Ablehnung. Erfahrungsberichte von Pflege- und Leitungskräften zeigen, dass verbesserte Technik und geduldige Einweisung am Ende beiden Seiten großen Nutzen bringt: Pflegekräfte schonen ihre Gesundheit und Pflegebedürftige sind nicht mehr in dem Maße ans Bett gefesselt, wie sie es ohne maschinelle Hilfe wären.

Elektronische Krankenakte

Wie ist der Gesamtzustand des Patienten, welche Behandlungen, Untersuchungen, Medikamente hat er wann bekommen, hat er genug gegessen und getrunken, wann ist er zuletzt gewaschen, umgelagert und mit frischer Bettwäsche versehen worden? All dies wurde jahrzehntelang handschriftlich in Kladden und Mappen festgehalten, die bei jedem Schichtwechsel dem nächsten Team übergeben wurden. So entstanden Berge unübersichtlicher und oft schwer zu entziffernder Akten. Heute erfolgt die Dokumentation vielerorts elektronisch. Die Möglichkeiten sind aber noch keineswegs ausgereizt. Voll integrierte Systeme erfassen den Zustand des Patienten in Echtzeit – die Pflegekräfte zücken bereits am Krankenbett das Smartphone, tragen den gemessenen Blutdruck ein und setzen ein Häkchen bei Waschen oder Füttern. Pflegeeinrichtungen haben es so leichter, von den Krankenkassen mehr Pflegeleistungen und mehr Personal genehmigt zu bekommen, wenn die Daten entsprechenden Bedarf signalisieren.

Intensivmedizin zuhause

Auch im Fall schwerer Erkrankungen möchten viele Ältere ihr vertrautes Umfeld nur ungern verlassen. Krankenhäuser sind heutzutage ohnehin nicht für längere Aufenthalte ausgelegt. So findet Intensivpflege immer öfter zuhause statt. Möglich wird dies durch mobile Pflegedienste und vor allem durch Fortschritte bei der Medizintechnik: Beatmungsgeräte oder Ernährungssonden lassen sich inzwischen auch daheim installieren. Sie erfordern allerdings eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung durch hochqualifiziertes Personal.

GPS-Überwachung

Demenzkranke sind oft noch gut zu Fuß. Viele wandern mehr oder weniger orientierungslos stundenlang hin und her, verlassen manchmal die Pflegeeinrichtung und werden im Straßenverkehr zur Gefahr für sich und andere. Sie im Auge zu behalten oder im Falle des Verschwindens wiederzufinden, bindet viel Personal. Hinzu kommt die permanente nervliche Anspannung. Die Option, einfach alle Ausgänge zu versperren, scheidet schon aus rechtlichen Gründen aus: Altenheime sind keine Gefängnisse. Einige Häuser nutzen heute aber die Möglichkeit, gefährdete Personen mit Sendern auszustatten. Auf diese Weise bekommt das Pflegepersonal mit, wenn sich Bewohner den Ausgängen nähern oder – außerhalb der Einrichtung – von ihren üblichen Spazierrouten abkommen. Dies entlastet die Pflegerinnen vom Stress der permanenten Beaufsichtigung und ermöglicht den Demenzkranken, sich geschützt autonom bewegen zu können.

  • Rund eine Million Beschäftigte arbeitet in der Pflege. Zur Grafik

Volker Hielscher, Lukas Nock, Sabine Kirchen-Peters: Technikeinsatz in der Altenpflege. Potenziale und Perspektiven in empirischer Perspektive. Berlin, edition sigma, Oktober 2015

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