Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitsmarkt: Mindestlohn: Viele Gründe für Gelassenheit
Aus Sicht seiner Gegner ist der geplante Mindestlohn eine Gefahr für Arbeitsplätze. Doch der aktuelle Stand der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung weist in eine andere Richtung: Mindestlöhne sind für den Arbeitsmarkt unbedenklich, zeigt ein Gutachten.
Dass der Mindestlohn zum 1. Januar 2015 kommen wird, steht fest. Wie er sich auswirken wird, darüber gehen die Meinungen auseinander: Befürworter erwarten vor allem Verbesserungen für Geringverdiener und mehr Lohngerechtigkeit, Kritiker warnen hartnäckig vor Jobverlusten. Wie solche Warnungen aus wissenschaftlicher Sicht zu beurteilen sind, haben Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen erörtert. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung haben die Ökonomen den Stand der Forschung zusammengefasst, um so zu einer Versachlichung der Diskussion beizutragen. Ihrer Expertise zufolge sind keine nennenswerten Beeinträchtigungen des Beschäftigungsniveaus zu erwarten. Vielmehr sei der geplante gesetzliche Mindestlohn überfällig, um den Lohnunterbietungswettbewerb zu stoppen, der seit fast 20 Jahren die soziale Marktwirtschaft in Deutschland untergrabe.
Erhebliche Fehlentwicklungen. Mittlerweile, schreiben die Wissenschaftler, sei der deutsche Niedriglohnsektor auf ein auch im europäischen Vergleich sehr hohes Niveau gewachsen. Nach ihren Berechnungen lag der Anteil der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro im Jahr 2012 zwischen 13,6 und 19,7 Prozent – je nachdem, ob die vertraglichen oder die tatsächlichen Arbeitszeiten zugrunde gelegt werden. Zwischen 4,7 und 6,8 Millionen Arbeitnehmer würden demnach vom Mindestlohn profitieren.
Dass der Gesetzgeber auf die Fehlentwicklungen am deutschen Arbeitsmarkt erst jetzt reagiert, hängt nach Einschätzung der IAQ-Forscher damit zusammen, dass Kritiker nicht müde werden, vor der Vernichtung von Arbeitsplätzen durch Mindestlöhne zu warnen. Diese „teilweise apokalyptischen Drohungen“ gäben jedoch weder die Theorie noch den Stand der empirischen Forschung angemessen wieder.
Uneindeutige Theorie. Theoretisch, so Bosch und Weinkopf, lasse sich kein strikter Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und Beschäftigung ableiten. Nur unter sehr restriktiven Annahmen seien die Auswirkungen eindeutig negativ: In einer statischen Wirtschaft ohne Arbeitgeberübermacht, dynamische Unternehmer und Beschäftigte und ohne staatliche Innovations- und Bildungspolitik würde eine gesetzliche Lohnuntergrenze zwangsläufig Jobs kosten. Mit der Realität hätten entsprechende Modelle allerdings wenig zu tun, urteilen die Gutachter. Zum einen dürften höhere Löhne im unteren Einkommensbereich erhebliche Nachfrageeffekte auslösen, da die betroffenen Gruppen zusätzliches Einkommen größtenteils gleich wieder ausgeben. Zum anderen sei in der Regel davon auszugehen, dass ein Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern besteht. Unternehmen seien daher in der Lage, Löhne und Beschäftigung unter das Gleichgewichtsniveau zu drücken. Ein Mindestlohn könne unter diesen Umständen zu mehr Beschäftigung beitragen.
Darüber hinaus sei Produktivität keine feststehende Größe, konstatieren die Experten. Unternehmen hätten die Möglichkeit, auf die Einführung eines Mindestlohns zu reagieren, indem sie ihre Effizienz erhöhen – durch neue Technologien, Weiterbildung und Veränderungen der Arbeitsorganisation. Zudem sei zu berücksichtigen, dass höhere Löhne die Motivation und die Leistung der Beschäftigten steigern. Gleichzeitig verringere sich die Fluktuation, wodurch die Unternehmen Kosten sparen. Ein weiterer Vorteil von gesetzlichen Lohnuntergrenzen besteht laut Bosch und Weinkopf darin, dass sie für gleiche Wettbewerbsbedingungen sorgen: Statt permanent neue Möglichkeiten des Lohndumpings zu ersinnen, könnten Arbeitgeber sich um Qualitätsverbesserungen kümmern. Dabei gilt: „In einem hochinnovativen Umfeld, in dem ein Mindestlohn die Unternehmen, die Beschäftigten und auch den Staat zu Innovationen veranlasst, sind die Handlungsspielräume größer als in einer wenig innovativen Umgebung.“
Empirisch unbedenklich. Wie sich Mindestlöhne tatsächlich auswirken, müsse letztlich empirisch geklärt werden, so die Analyse der Autoren. Das Gros der Studien, die sich vor allem auf den US-amerikanischen und den britischen Arbeitsmarkt beziehen, lasse die Warnungen der Mindestlohngegner unbegründet erscheinen: „Die empirische Mindestlohnforschung der letzten 20 Jahre kommt mit ihren verfeinerten Methoden überwiegend zu dem Ergebnis, dass Mindestlöhne keine signifikanten Auswirkungen auf die Beschäftigung haben – weder von Erwachsenen noch von Jugendlichen.“
Zu analogen Ergebnissen kommen Studien, die sich mit der Situation in Deutschland befassen: Evaluationen von Branchenmindestlöhnen hätten im Jahr 2011 übereinstimmend gezeigt, dass sich keine negativen Beschäftigungseffekte feststellen ließen – obwohl die untersuchten Lohnuntergrenzen zum Teil deutlich über 8,50 Euro liegen. Mindestlöhne haben den Untersuchungen zufolge einen durchaus wünschenswerten Effekt: Sie erschweren Geschäftsmodelle, die auf Lohnunterbietung basieren, und sorgen dafür, dass sich die Nachfrage zu effizienteren Unternehmen verlagert. Das Problem: „Dieser inzwischen sehr differenzierte Stand der Forschung wird in Deutschland vielfach einfach nicht zur Kenntnis genommen“, so Bosch und Weinkopf. Modellrechnungen von Ökonomen, die erhebliche Arbeitsplatzverluste infolge des geplanten Mindestlohns vorhersagen, basierten auf Annahmen, die in keiner Weise von den Ergebnissen der empirischen Forschung gedeckt seien.
Moderate Höhe. Aus Sicht der IAQ-Forscher sprechen die Rahmenbedingungen in Deutschland klar gegen pessimistische Prognosen. Zum einen sei der vorgesehene Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde im europäischen Vergleich „sowohl absolut als auch relativ eher moderat“. In Frankreich, Belgien und den Niederlanden zum Beispiel lägen die Lohnuntergrenzen über 9 Euro. Der deutsche Mindestlohn würde 51 Prozent des mittleren Stundenlohns von Vollzeitbeschäftigten entsprechen und in dieser Hinsicht im europäischen Mittelfeld rangieren.
Innovative Wirtschaft. Zum anderen, so Bosch und Weinkopf, gehöre die deutsche Volkswirtschaft zu den Innovationsführern in Europa, sollte also gut in der Lage sein, mit Effizienzsteigerungen auf eine Lohnuntergrenze zu reagieren. Beim Index der Innovationsleistung der EU-Kommission, in den unter anderem Forschungsausgaben, die Zahl der Patente und der Anteil der Beschäftigten in wissensintensiven Tätigkeiten einfließen, liegt Deutschland europaweit an vierter Stelle. Besonders gut fielen hierzulande die Innovationsindikatoren für Klein- und Mittelbetriebe aus, die überdurchschnittlich häufig Niedriglöhne zahlten. Schlusslicht in der Gruppe der Innovationsführer sei Deutschland dagegen bei den Arbeitskosten: Während eine deutsche Arbeitsstunde mit 31 Euro zu Buche schlägt, sind es in Dänemark 39,40 Euro und in Schweden 42,20 Euro. Dabei sollten Anpassungen an höhere Löhne den deutschen Betrieben auch deshalb leicht fallen, weil die betroffenen Arbeitnehmer ungewöhnlich gut qualifiziert sind: Fast vier Fünftel der Beschäftigten mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro hätten eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen akademischen Abschluss.
Großzügige Fristen. Ein weiterer Faktor, der nach Einschätzung der Experten Anlass zu Gelassenheit geben sollte, ist der große zeitliche Spielraum, den der Gesetzgeber den Unternehmen einräumt: Zum einen sei seit Dezember 2013 bekannt, dass im Januar 2015 der gesetzliche Mindestlohn kommt. Zum anderen hätten die Tarifvertragsparteien auf Branchenebene die Möglichkeit, für eine Übergangsfrist bis Ende 2016 tarifliche Löhne unterhalb von 8,50 Euro zu vereinbaren. Außerdem könne der Mindestlohn frühestens im Januar 2017 oder 2018 erstmals angepasst werden, was einem Einfrieren für mindestens zwei Jahre gleichkomme.
Damit der Mindestlohn tatsächlich ein Erfolg wird, empfehlen Bosch und Weinkopf strenge Kontrollen und Sanktionen: Die Politik sollte nicht nur finanzielle Strafen für Verstöße durchsetzen, sondern zusätzlich die Nachzahlung vorenthaltener Lohnbestandteile an die Beschäftigten. Darüber hinaus begrüßen die Gutachter die geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Tarifautonomie. Internationale Vergleiche zeigten, dass nur eine Kombination von Mindestlöhnen und Tarifbindung zu einer wirksamen Eindämmung des Niedriglohnsektors beitragen kann.
Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf: Zur Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 € in Deutschland (pdf), Expertise im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Juni 2014