Quelle: HBS
Böckler ImpulsMindestlohn: Verpasste Chance
Die EU-Mindestlohnrichtlinie liefert wichtige Impulse zur Stärkung der Tarifbindung und für ein angemessenes gesetzliches Mindestlohnniveau. Doch es droht eine oberflächliche Umsetzung.
Bis zum 15. November 2024 muss die Europäische Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat im Vorfeld bekannt gegeben, dass die Anforderungen der Richtlinie bereits durch bestehende Gesetze erfüllt seien und es aus ihrer Sicht keiner gesonderten gesetzlichen Änderungen bedürfe. Thorsten Schulten, der Leiter des WSI-Tarifarchivs, sieht darin eine „verpasste Chance“. Denn die Richtlinie liefert zum Beispiel fundierte Richtgrößen für einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn. Nach WSI-Berechnungen wären das in Deutschland aktuell 14,61 Euro und im kommenden Jahr 15,12 Euro. Zur Stärkung des Tarifsystems, die die EU ebenfalls als Ziel setzt, wäre unter anderem ein wirkungsvolles Bundestariftreuegesetz nötig.
„Die EU-Kommission hat richtig erkannt, dass der Schutz gegen Niedriglöhne mehr Verbindlichkeit braucht und dass eine hohe Abdeckung durch Tarifverträge und klare Kriterien für angemessene gesetzliche Mindestlöhne sich ergänzende Schlüssel dafür sind“, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. „Die Ampelkoalition sollte sich auf keinen Fall damit zufriedengeben, deutlich hinter der EU-Kommission zurückzubleiben, sondern substanziell nachlegen.“
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Wo weniger als 80 Prozent der Beschäftigten tarifgebundene Arbeitgeber haben, verpflichtet die Richtlinie die nationalen Regierungen, konkrete Aktionspläne vorzulegen. Obwohl hierzulande nur noch die Hälfte der Beschäftigten in einem Unternehmen mit Tarifvertrag arbeitet, seien bislang kaum konkrete politische Maßnahmen ergriffen worden, so Schulten. „Mit dem offiziellen Entwurf für ein Bundestariftreuegesetz hat die Bundesregierung nun einen ersten, sinnvollen Vorschlag gemacht, um die Tarifbindung in Deutschland zu stabilisieren. Insgesamt wird dies jedoch nicht ausreichen, um eine Trendwende herbeizuführen.“ Zusätzlich nötig seien unter anderem mehr Allgemeinverbindlicherklärungen, ein Verbot sogenannter OT-Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden, eine Stärkung der Nachwirkung von Tarifverträgen bei Betriebsabspaltungen, bessere – auch digitale – Zugangsrechte von Gewerkschaften und Betriebsräten zu Beschäftigten in Unternehmen sowie weitere tarifvertragliche Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder.
Parallel zur Stärkung der Tarifbindung sind diejenigen Mitgliedsstaaten, die über einen gesetzlichen Mindestlohn verfügen, aufgefordert, diesen nach klar definierten Kriterien festzulegen und regelmäßig anzupassen. Dabei sollen Referenzwerte für die Angemessenheit zugrunde gelegt werden. Die Auswahl dieser Werte bleibt zwar den Mitgliedsstaaten vorbehalten. Allerdings gebe die Richtlinie die „eindringliche Empfehlung“, sich an den international üblichen Standards wie 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns zu orientieren, betont der Experte. Das Grundproblem des deutschen Mindestlohnregimes bestehe darin, dass es mit der Orientierung an den Tariflöhnen zwar über ein Kriterium zur Entwicklung des Mindestlohns verfüge, Kriterien für die angemessene Höhe jedoch fehlen „und damit ein einmal politisch festgelegtes Mindestlohnniveau einfach fortgeschrieben wird“.
Nach Berechnungen der OECD schwankt der deutsche Mindestlohn seit seiner Einführung zwischen 46 und 48 Prozent des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten. Lediglich die außerordentliche Erhöhung auf zwölf Euro hat diesen Wert zeitweilig auf knapp 52 Prozent ansteigen lassen. Damit lag der deutsche Mindestlohn nach Schultens Berechnung in der Regel mindestens zwei Euro unter dem Referenzwert der EU-Richtlinie. Legt man die aktuellen Prognosen für die Lohnentwicklung für 2024 und 2025 zugrunde, so müsste er in diesem Jahr 14,61 Euro betragen und 2025 auf über 15 Euro ansteigen, um 60 Prozent des Medianlohns zu erreichen.
Ob für die Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie eine Änderung des deutschen Mindestlohngesetzes notwendig ist, ist in der juristischen Debatte höchst umstritten. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil habe jüngst betont, dass er die Vorgaben dann als erfüllt ansieht, „wenn die Mindestlohnkommission den Referenzwert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns bei den nächsten Anpassungsentscheidungen berücksichtigt“, erklärt Schulten. Nach Einschätzung des WSI-Forschers sollte diese Zielsetzung explizit im deutschen Mindestlohngesetz festgeschrieben werden. Eine entsprechende Änderung werde mittlerweile von einer „breiten politischen Allianz“ gefordert.
Thorsten Schulten: Die (fehlende) Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie in Deutschland, WSI-Kommentar Nr. 4, Oktober 2024