Quelle: HBS
Böckler ImpulsArmut: Millionen arbeiten auf ALG-II-Niveau
Insgesamt gut 10 Millionen Menschen dürften einen gesetzlichen Anspruch auf Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld haben. Tatsächlich erhalten derzeit 7,4 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen. Fast 2 Millionen Erwerbstätige leben in verdeckter Armut.
Das zeigt eine Simulationsstudie der Verteilungsforscherin Irene Becker. Sie hat auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) das Ausmaß von Bedürftigkeit 2004 - also kurz vor der Hartz-IV-Reform - geschätzt und mit aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) verglichen. Die BA-Statistik verrate nur die "halbe Wahrheit" über Hilfebedürftige in Deutschland, so Becker. Zwar sei durch die Hartz- IV-Reform die Dunkelziffer der Armut "mäßig gesunken" - insbesondere bei Arbeitslosen, die vor der Reform den Gang zum Sozialamt scheuten und nun ihre Ansprüche bei der Arbeitsagentur anmelden. Doch etwa 1,9 Millionen Geringverdiener nehmen offenbar ihren Anspruch auf aufstockende Leistungen nicht wahr. Sie leben in verdeckter Armut - und mit ihnen etwa eine Million Kinder.
Damit liegt die Zahl der bedürftigen Erwerbstätigen etwa dreimal so hoch wie die 900.000 gemeldeten "Aufstocker". Betroffen sind vor allem gering Qualifizierte, Teilzeitbeschäftigte, die keine volle Stelle finden, sowie Familien mit drei oder mehr Kindern. 1,5 Millionen Haushalte schützt auch ein Vollzeiteinkommen nicht vor Bedürftigkeit.
Arbeiten trotz Mini-Einkommen
Die Ergebnisse der Studie stehen in "auffallendem Kontrast" zu Thesen über negative Arbeitsanreize der staatlichen Grundsicherungszahlungen, so Irene Becker. Sie fand in den Daten zahlreiche Geringverdienerhaushalte mit einem Einkommen "in einem engen Bereich um das soziokulturelle Existenzminimum". Die dürfte es jedoch theoretisch gar nicht geben: Nach dem ökonomischen Modell des rational handelnden "Homo oeconomicus" sollten die Geringverdiener bevorzugt von staatlicher Unterstützung leben, statt zu arbeiten. Dieses theoretische Konzept sei aber "weit von der gesellschaftlichen Realität entfernt". Offenbar scheint breiten Schichten das Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Anerkennung und einer längerfristigen Lebensperspektive wichtiger zu sein, als das kurzfristige wirtschaftliche Kalkül, folgert Becker. Die Daten lieferten einen Hinweis auf die Größe und Struktur des Niedriglohnbereichs, der sich nur zum Teil in der BA-Statistik spiegele. Nicht Leistungsmissbrauch ist verbreitet, sondern Arbeit trotz Mini-Einkommen.
Kombilohn würde teuer
Die Daten zur Einkommensverteilung weisen auch auf enorme Folgekosten eines Kombilohns für den Staatshaushalt hin - zumindest wenn minimale Stundenlöhne ohne Bedürftigkeitsprüfung aufgestockt werden. Denn einerseits würden die Lohnzuschüsse zum Teil an Personen gezahlt, die derzeit nicht als bedürftig gelten, weil etwa das Einkommen des Partners angerechnet wird. Andererseits wären viele Arbeitnehmer trotz Kombilohn weiterhin auf die Grundsicherung angewiesen, folgert Becker.
Auch die derzeit diskutierte Streichung der Freibeträge für Mini-Jobs zugunsten eines erhöhten Selbstbehaltes über der 400-Euro-Grenze dürfte kaum kostenneutral für den Staat bleiben. Denn dann wird die Zahl der Anspruchsberechtigten deutlich zunehmen, schließt die Forscherin angesichts der Millionen Geringverdiener im Bereich des Existenzminimums.
Ein erschreckendes Schlaglicht wirft die Auswertung auch auf die Struktur der Armut am gesetzlichen Existenzminimum. Die SOEP-Daten zeigen, welche Gruppen in der Bevölkerung besonders häufig bedürftig sind, also Anspruch auf staatliche Unterstützung haben:
- Fast ein Drittel aller Kinder unter drei Jahren
- Etwa die Hälfte der Alleinerziehenden
- Ein Viertel der Paare mit drei oder mehr Kindern
In den Zahlen spiegeln sich fehlende Betreuungsangebote und Erwerbsmöglichkeiten der Mütter, so Becker. In Großfamilien reicht ein Einkommen oft nicht.
Irene Becker: Armut in Deutschland. Bevölkerungsgruppen unterhalb der ALG-II-Grenze, Forschungsbericht im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, 9/2006
zum Projekt: Armut unterhalb der Alg II-Grenze und
Download der Studie.