Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitskämpfe: Mehr Streikende, weniger Streiktage
Tarifkonflikte eskalieren in Deutschland häufiger als zu Beginn des Jahrzehnts. Die amtliche Streikstatistik bildet das nur teilweise ab. Trotzdem ist Deutschland weiterhin ein relativ streikarmes Land.
Rund 1,6 Millionen Beschäftigte haben sich 2008 an Streiks beteiligt. Das waren etwa eine Million mehr als im Jahr zuvor, zeigt die neue Arbeitskampfbilanz des WSI. Das Streikvolumen, ausgedrückt in der Zahl der Streiktage, ging hingegen 2008 zurück. Nach vorsichtiger Schätzung des WSI-Arbeitskampfexperten Heiner Dribbusch fielen durch Arbeitskämpfe einschließlich Warnstreiks 2008 etwa 542.000 Arbeitstage aus - gut 180.000 weniger als 2007. "Die gegenläufige Entwicklung zeigt: 2008 war ein Jahr mit intensiven Arbeitskämpfen, die überwiegend als Warnstreiks geführt wurden. Es gab relativ kurze Streiks mit vielen Beteiligten", erklärt der Wissenschaftler.
Auch 2008 setzten sich Trends fort, über die das WSI bereits in den Vorjahren berichtet hat: Es gibt heute mehr Arbeitskämpfe als zu Beginn des Jahrzehnts. Viele der Streikaktionen sind allerdings relativ kurz; die Form des Warnstreiks dominiert. Im Vergleich zu den 70er-Jahren und ihren großen Aussperrungen und Flächenstreiks ist das heutige Arbeitskampfvolumen immer noch sehr niedrig.
Dafür, dass die Arbeitskämpfe wieder zunehmen, nennt Dribbusch mehrere Gründe: Viele Unternehmen und Arbeitgeberverbände versuchten aggressiver, eigene Ziele durchzusetzen: beispielsweise längere Arbeitszeiten. Auch auf Seiten der Beschäftigten sei die Konfliktbereitschaft gewachsen. Hinzu komme eine Zersplitterung der Tariflandschaft, wie sie sich etwa im ehemals einheitlich verhandelnden öffentlichen Dienst zeigt.
Die WSI-Analyse bestätigt vom Trend her die offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA). Bei den Werten weicht sie jedoch erheblich nach oben ab. "Die offizielle Streikstatistik ist eine wichtige Orientierungsmarke. Aber sie hat methodische Schwächen und bildet das Arbeitskampfgeschehen nur lückenhaft ab", sagt Dribbusch. So werden in die amtliche Arbeitskampfstatistik nur solche Streiks einbezogen, an denen je erfasstem Betrieb mindestens zehn Beschäftigte beteiligt waren und die mindestens einen Tag dauerten. Sowie jene, durch die je Betrieb ein Ausfall von mindestens 100 Arbeitstagen, gerechnet in Beschäftigtenstunden, verursacht wurde. "Durch diese Grenzen werden viele Streikaktionen als so genannte Bagatellstreiks nicht in die Statistik aufgenommen", erklärt der WSI-Forscher. Weil beispielsweise in vielen Einzelhandelsfilialen weniger als zehn Personen beschäftigt sind, würden Streikaktionen dort oft nicht erfasst. Die wichtigste Fehlerquelle liegt aber im Meldeverfahren selbst: Zwar sind Unternehmen verpflichtet, Arbeitskämpfe an die BA zu melden. Es gibt aber keine Kontrollen oder Sanktionen. Dribbusch geht daher davon aus, dass viele Streiks gar nicht gemeldet werden.
Internationale Vergleichsstatistiken basieren auf den offiziellen Zahlen der BA. Sie weisen Deutschland seit etlichen Jahren als Land mit sehr wenigen Streiktagen aus. Für die zehn Jahre von 1998 bis 2007 wurden gerade einmal vier arbeitskampfbedingte Ausfalltage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte gezählt. Für die fünf Jahre von 2004 bis 2008 ergeben sich ca. 5,2 Streiktage.
Nach der WSI-Analyse dürften die Werte deutlich höher sein. Im internationalen Vergleich müsste die Bundesrepublik jedoch auch mit revidierten Daten als streikarm gelten. Eine Neuberechnung auf Basis der WSI-Schätzungen ergäbe beispielsweise für die Jahre von 2004 bis 2008 durchschnittlich rund 18 Ausfalltage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte - dreimal mehr, als die offizielle Statistik feststellt. "Selbst damit läge die Bundesrepublik aber weiter im unteren Bereich der OECD-Länder", sagt Dribbusch.
Dazu kommt: Wollte man den Ländervergleich auf eine neue Basis stellen, fielen auch in anderen Staaten die Streikzahlen höher aus. Denn Erfassungsgrenzen wie in Deutschland gibt es beispielsweise auch in Großbritannien oder den USA, in einer ganzen Reihe weiterer Länder gelten die Statistiken aus anderen Gründen als lückenhaft.
Heiner Dribbusch ist Experte für Tarif- und Gewerkschaftspolitik im WSI.