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HBS Böckler Impuls

Arbeitszeit: Mehr Spielraum für Beschäftigte

Ausgabe 16/2018

Der Achtstundentag und die Fünftagewoche werden seltener, flexible Arbeitszeitmodelle sind auf dem Vormarsch. Was Gewerkschaften tun können, damit die Interessen der Beschäftigten dabei nicht unter die Räder kommen, zeigt eine Studie zum europäischen Dienstleistungssektor.

Immer mehr Beschäftigte sind am Wochenende, im Schichtdienst oder nachts tätig und per Smartphone auch in der Freizeit für Dienstliches erreichbar. Gleichzeitig würden viele gern stärker selbst über ihre Arbeitszeiten bestimmen, um Beruf und Privatleben besser unter einen Hut zu bekommen. Wie erreicht man beim Thema Arbeitszeit einen fairen Ausgleich, damit sich im Konfliktfall nicht immer der Chef durchsetzt? Der Sozialwissenschaftler Roland Schneider hat im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung beispielhaft für den Dienstleistungssektor untersucht, wie Gewerkschaften mit dieser Entwicklung umgehen und welche Möglichkeiten die Tarifpolitik bietet. Dafür hat er Dienstleistungsgewerkschaften aus 15 europäischen Ländern befragt und darüber hinaus Tarifverträge sowie Daten der EU ausgewertet.

An der Dauer von Arbeitszeiten hat sich der Studie zufolge zuletzt wenig geändert: 2017 haben Beschäftigte im EU-Schnitt 36,3 Stunden pro Woche gearbeitet. Das sind zwar 30 Minuten weniger als 2008. Der Grund dafür ist allerdings in erster Linie eine gestiegene Teilzeitquote, vor allem bei den Frauen. Vollzeitbeschäftigte Männer kommen durchschnittlich nach wie vor auf 40,9 Wochenstunden.

  • Ob Schicht-, Nacht- oder Wochenenddienst - die Arbeitszeiten in der EU werden unregelmäßiger. Zur Grafik

Anders als bei der Dauer zeichnen sich bei der Lage und Verteilung von Arbeitszeiten deutliche Veränderungen ab. Europaweit gebe es einen „Trend zu atypischen Arbeitszeiten“, schreibt Schneider. Eine „hohe Regelmäßigkeit“ mit gleichbleibender Stundenzahl, fixem Beginn und Ende galt 2015 nur noch für 43 Prozent der Beschäftigten in der EU, drei Prozentpunkte weniger als zehn Jahre zuvor. 2010 mussten 17 Prozent Schichtdienst verrichten, 2015 waren es bereits 21 Prozent. An Samstagen arbeitet etwa in Deutschland mittlerweile ein Fünftel der Beschäftigten regelmäßig, an Sonn- und Feiertagen fast ein Viertel.

Dabei verschwimme die Grenze zwischen Beruf und Privatleben zunehmend, so der Experte. 22 Prozent der Arbeitnehmer in der EU müssen mehrmals im Monat in der Freizeit für den Job aktiv werden, zwei Prozent tun das täglich. In Deutschland fielen 2016 insgesamt 829 Millionen Überstunden an, 493 Millionen davon waren unbezahlt. Der Anteil der Beschäftigten, die sehr häufig oder oft außerhalb der Arbeitszeit erreichbar sein mussten, stieg zwischen 2011 und 2017 von 27 auf 56 Prozent.

Viele Unternehmen fassen Flexibilität dabei ziemlich einseitig auf: Im Mittelpunkt stehen laut Schneiders Analyse betriebliche Zwänge, während die Bedürfnisse der Beschäftigten eher eine untergeordnete Rolle spielen. So können EU-weit nur 16 Prozent von ihnen ihre Arbeitszeit selbst bestimmen.

Bei den Gewerkschaften steht der Konflikt zwischen den Flex­ibilisierungsstrategien der Unternehmen und dem Wunsch der Beschäftigten nach selbstbestimmten Arbeitszeiten weit oben auf der Agenda: Im Fokus der Arbeitszeitpolitik stünden seit geraumer Zeit statt kollektiver Verkürzung Forderungen nach mehr Mitsprache und Gestaltungsmöglichkeiten, so der Autor. Das Ziel seien Regelungen, die den Beschäftigten mehr Spielraum lassen für Kinder, Pflege, Weiterbildung, Auszeiten, einen gleitenden oder früheren Übergang in Rente.

Beispielhaft für das Bemühen um mehr Zeitsouveränität sind Schneider zufolge Tarifverträge, die den Beschäftigten erlauben, zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit zu wählen. Auf eine solche Option haben sich die Verkehrsgewerkschaft EVG und die Deutsche Bahn im Dezember 2016 geeinigt, Verdi und die Deutsche Post im Frühjahr 2018. Statt für Lohnerhöhungen um drei und 2,1 Prozent können sich die Post-Mitarbeiter auch für eine Entlastungszeit von 60,27 und 42,19 Stunden entscheiden, die für ganztägige oder auch mehrtägige Freistellungen nutzbar ist. In der österreichischen Elektroindustrie gab es bereits 2013 einen Abschluss mit Freizeitoption.

Für familienfreundliche Arbeitszeiten setzen sich der Befragung zufolge diverse europäische Gewerkschaften ein. Zum Forderungskatalog gehören Möglichkeiten wie Kurzzeitfreistellungen, längere Auszeiten, die temporäre Verringerung von Arbeitszeit oder eine verlängerte Elternzeit. Im spanischen Einzelhandel sieht ein Tarifvertrag das Recht auf unbezahlte Freistellung für die Pflege von Angehörigen für bis zu sechs Monate vor.

Telearbeit, die ebenfalls zu einer besseren Vereinbarkeit beitragen kann, ist Gegenstand zahlreicher Tarifverträge und betrieblicher Vereinbarungen. Wichtige Aspekte dabei sind die Freiwilligkeit, die Absicherung des Beschäftigungsstatus und der Rechte von Telearbeitern, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datenschutz, die Bereitstellung von Arbeitsgeräten, die Qualifizierung. Einzelne Gewerkschaften plädieren dafür, ein Recht auf Homeoffice gesetzlich festzuschreiben.

Während es bei der Telearbeit darum geht, Beschäftigten mithilfe digitaler Technologie zu mehr Freiräumen zu verhelfen, sehen viele Gewerkschaften durchaus auch die Risiken. Um Entgrenzung zu verhindern, fordern sie ein Recht auf Nichterreichbarkeit in der Freizeit. In Frankreich ist ein solches Recht seit Anfang 2017 gesetzlich verankert.

Der zunehmenden Bedeutung von Weiterbildung versuchen die Gewerkschaften ebenfalls programmatisch Rechnung zu tragen. Einen Anspruch auf Weiterbildungstage haben sie in etlichen Tarifverhandlungen durchgesetzt. Oft sind Weiterbildungs- und Qualifizierungsfonds vorgesehen. Laut dem Tarifvertrag für das private Versicherungsgewerbe in Deutschland, der seit Anfang 2018 in Kraft ist, haben Beschäftigte Anspruch auf ein regelmäßiges Gespräch mit ihrem Chef zur Ermittlung des individuellen Qualifizierungsbedarfs und zur Vereinbarung von Maßnahmen. Dabei besteht die Möglichkeit, bis zu sechs Monate Bildungsteilzeit zu beantragen. Andere Tarifverträge – etwa für Bankangestellte in Luxemburg und den Niederlanden – sehen darüber hinaus Weiterbildungsprämien, Bildungsurlaub und ein Weiterbildungsbudget für jeden Beschäftigten vor.

Auch die demografische Entwicklung prägt der Studie zufolge die Tarifpolitik. Die Gewerkschaften sind bemüht, alternsgerechte Arbeitsbedingungen durchzusetzen und Älteren weiterhin einen selbstbestimmten Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, etwa durch Altersteilzeit mit teilweisem Ausgleich der Einkommenseinbußen. Ein Beispiel für sogenannte Generationenverträge ist der 2011 zwischen  Verdi und der Deutschen Post abgeschlossene Tarifvertrag: Jugendliche erhalten nach der Ausbildung eine feste Stelle. Beschäftigte ab 59 können ihre Arbeitszeit um die Hälfte reduzieren, ihr Gehalt wird durch die Post sowie einen Demografiefonds auf bis zu 87 Prozent aufgestockt.

Als Fazit hält Schneider fest, dass Beschäftigte durch innovative Regelungen in vielen europäischen Ländern bereits über ein breites Bündel an Arbeitszeitoptionen verfügen. Solche Regelungen seien zwar bei weitem noch nicht flächendeckend durchgesetzt, eröffneten aber immerhin großen Gruppen neue Spielräume. Ein ernstes Problem sind dabei nach Auskunft der Gewerkschaften betriebliche Hürden, die Beschäftigte davon abhalten, von ihren Ansprüchen Gebrauch zu machen. Als Ideal schwebe vielen Chefs offenbar nach wie vor der männliche Vollzeitbeschäftigte vor, der stets zur Verfügung steht und auf Abruf Überstunden leistet. Das Ziel von Gewerkschaften müsse es sein, die Nutzung und Akzeptanz von Arbeitszeitoptionen zu fördern, indem sie sich unter anderem für eine ausreichende Personaldecke einsetzen. Für die Verankerung in der betrieblichen Praxis brauche es zudem engagierte Betriebsräte, so der Experte. 

Roland Schneider: Innovative Arbeitszeitpolitik im Dienstleistungssektor, Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 91, September 2018

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