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HBS Böckler Impuls

Verteilung: Mehr Reiche und mehr Arme

Ausgabe 10/2008

Das Arbeits- und Sozialministerium hat einen Entwurf des dritten Armuts- und Reichtumsberichts für Deutschland vorgelegt. Im Kern dokumentiert er die gleiche Tendenz wie schon die Berichte von 2001 und 2005: Die Gesellschaft driftet weiter auseinander.

Die Armut in Deutschland hat im vergangenen Jahrzehnt zugenommen. Ein größerer Teil der Bevölkerung muss sich beim Konsum einschränken. Oft sind mit Armut aber auch  geringe Bildungschancen und schlechte Gesundheit verbunden. 1998 galten laut Sozio-oekonomischem Panel 12 Prozent der Bevölkerung als arm, 2005 waren es bereits 18 Prozent. 1998 war jedes zehnte Paar mit Kindern arm, 2005 schon fast jedes fünfte.

Je nach Datenquelle variieren die errechneten Armutsquoten etwas (siehe Kasten). Dennoch vermittelt der Berichtsentwurf einen Gesamteindruck von den Lebensverhältnissen in Deutschland und zeigt, wie die Diskrepanz zwischen oberem und unterem Ende der Verteilung gewachsen ist:

Niedrige Einkommen: Von Einkommensarmut betroffen sind besonders Arbeitslose, Ungelernte und Alleinerziehende. In Ostdeutschland ist der Anteil höher als im Westen. Hier stieg die Armutsquote zwischen 1998 und 2005 von 15 auf 22 Prozent, im Westen nahm sie von 11 auf 17 Prozent zu. "Arm" heißt: Die Betroffenen haben weniger als 60 Prozent des mittleren (bedarfsgewichteten) Nettoeinkommens zur Verfügung. Die steigende Armut "korrespondiert mit einer Zunahme der Abwärtsmobilität aus mittleren Einkommensschichten", so der Berichtsentwurf.

Die Folgen der vierten Hartz-Reform sind noch nicht erkennbar: Welche Auswirkungen die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf die Einkommensverteilung gehabt habe, lasse sich "nicht zweifelsfrei beantworten".  Positiv hat sich von 1998 bis 2006 die Zahl der Wohnungslosen, die auf der Straße leben, entwickelt: Nach Schätzungen ist sie um knapp 50 Prozent auf rund 18.000 gesunken. 

Hohe Einkommen: 2003 waren sieben Prozent der Bevölkerung der Einkommen- und Verbrauchstichprobe des Statistischen Bundesamtes zufolge "reich”. Das heißt, sie verdienten mindestens das Doppelte des mittleren Einkommens. Ein Alleinstehender musste etwa 3.300 Euro netto im Monat bekommen, um dazuzugehören. Für ein Paar mit zwei Kindern lag die Schwelle bei knapp 6.900 Euro.

Vermögen und Schulden: Das Vermögen ist in Deutschland noch erheblich ungleicher verteilt als die Einkommen: Das oberste Zehntel vereinte 2002 etwa 56 Prozent aller Vermögen auf sich. Dagegen besaß die untere Hälfte der Bevölkerung gerade 2 Prozent des Gesamtvermögens. Ein erheblicher Teil hat nicht nur kein Vermögen, sondern Schulden. 2003 waren knapp drei Millionen Haushalte überschuldet. Das heißt, ihr Einkommen reichte nicht aus, um Zinsen und Tilgung ihrer Kredite zu bezahlen. Mietschulden oder Schulden bei Versandhäusern sind in dieser Statistik allerdings nicht erfasst. Bis 2006 sank die Zahl der nach dieser Abgrenzung überschuldeten Haushalte auf 1,6 Millionen. 

Bildungschancen: Die Europäische Union betrachtet eine abgeschlossene berufliche Ausbildung "als notwendige Mindestqualifikation für eine erfolgreiche Teilhabe in modernen Wissensgesellschaften". 2006 verfügten gut 16 Prozent der Bevölkerung nicht über einen entsprechenden Abschluss. Die Quote ist seit 1996 sogar um einen halben Prozentpunkt gestiegen.

Zudem weist der Bericht auf die soziale Selektivität des deutschen Bildungssystems hin. So nehmen 83 Prozent der Kinder mit akademisch gebildetem Vater ein Hochschulstudium auf, aber nur 23 Prozent der Kinder von Nicht-Akademikern. Nur jeder fünfte ausländische Jugendliche geht aufs Gymnasium, während fast jeder zweite deutsche diese Schulform besucht.

Gesundheit: "Auch in einem hoch entwickelten Land wie der Bundesrepublik Deutschland lässt sich ein Zusammenhang zwischen der sozialen und gesundheitlichen Lage feststellen", so der Bericht. Beispielsweise haben Männer mit hoher Schulbildung zu 57 Prozent einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand, solche mit niedriger Schulbildung nur zu 34 Prozent. Kinder aus Haushalten mit niedrigem sozialem Status sind zu 32 Prozent kerngesund, in Familien mit hohem Status liegt der Anteil zehn Prozentpunkte höher.  


Textbox:
Die Tücken der Statistik: Wie viele Arme gibt es?

Die Armutsquote in Deutschland liege bei 13 Prozent, meldete die Bundesregierung. An anderer Stelle des Entwurfs zum neuen Armuts- und Reichtumsbericht wird die Quote jedoch mit 18 Prozent angegeben. Beide Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2005. Und beide Statistiken benutzen dieselbe Armutsdefinition. Welche Armutsquote ist nun die "richtige”? Namhafte Sozialwissenschaftler haben Einwände gegen die Schwerpunktsetzung des Berichtsentwurfs. 

Die unterschiedlichen Werte ergeben sich aus verschiedenen Datensätzen. Die mit 13 Prozent niedrigere Armutsquote stammt aus der von den Statistikämtern aller EU-Staaten zusammengestellten Datenbasis EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions). Die höhere Armutsquote von 18 Prozent resultiert aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.

Die EU-SILC-Daten werden seit 2005 erhoben, um Ländervergleiche zu ermöglichen. Das SOEP liefert hingegen bereits seit 1984 Auskunft über Einkommens- und Lebensverhältnisse in Deutschland. Daher bildet es historische Entwicklungen ab - ist laut Arbeitsministerium aber weniger für internationale Vergleiche geeignet.

Den Bezugspunkt der Armutsgrenze bildet das mittlere Einkommen. Und das fällt in den beiden Stichproben unterschiedlich aus: Laut EU-SILC beträgt es rund 15.600 Euro pro Person, dem SOEP zufolge jedoch fast 17.600 Euro. WSI-Ökonom Claus Schäfer erläutert einen Grund für den Unterschied: Im Gegensatz zum SOEP vernachlässigt EU-SILC den Einkommensvorteil aus selbst genutztem Wohneigentum. So erscheint ein Teil der Bevölkerung im mittleren Einkommenssegment weniger wohlhabend, als er tatsächlich ist. Dadurch sinken der Mittelwert und die daraus abgeleitete Armutsschwelle - und mit ihr die Zahl der statistisch Armen.

Weitere Schwächen der EU-SILC-Daten nennt der Wirtschaftsprofessor Richard Hauser. So handele es sich nicht um eine korrekte Zufallsauswahl. Zudem würden in Deutschland die Haushalte nicht in einem persönlichen Interview befragt, sondern bekommen nur Fragebögen mit der Post zugeschickt. Dieses Verfahren dürfte gerade Menschen mit schlechten Deutschkenntnissen und niedrigem Bildungsstand von einer Teilnahme abhalten, vermutet Hauser. Personen am unteren Ende der Einkommensskala und weniger integrierte Ausländer seien daher in der Stichprobe unterrepräsentiert.

Hauser sieht seine Thesen auch durch einen Vergleich mit dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes bestätigt. Eine Gegenüberstellung der Zahlen deute daraufhin, dass EU-SILC die deutsche Sozialstruktur nur unzureichend abbilde. Beispielsweise unterschätze die neue EU-Statistik die Zahl der kleinen Kinder, die Zahl der Personen mit niedriger Bildung und die Zahl der Erwerbstätigen.

  • Einkommen und Vermögen in Deutschland konzentrieren sich am oberen Ende. Zur Grafik
  • Die häufigste Ursachen für Überschuldung sind Arbeitslosigkeit und Verlust des Partners. Zur Grafik
  • Wer wenig Einkommen hat, ist öfter krank. Zur Grafik
  • Da es einen erheblichen Unterschied macht, ob von einem Einkommen nur eine Person oder mehrere leben müssen, gilt für jede Haushaltskonstellation eine andere Armutsgrenze. Zur Grafik

Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Lebenslagen in Deutschland, Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (pdf), Entwurf vom 19. Mai 2008

Richard Hauser: Probleme des deutschen Beitrags zu EU-SILC aus der Sicht der Wissenschaft, Working Paper No. 3 des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten, November 2007

 

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