zurück
Mehr Mut zum Tarif Böckler Impuls

Aktionsplan: Mehr Mut zum Tarif

Ausgabe 07/2024

Deutschland muss bis November einen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung vorlegen. Wie dieser aussehen kann, beschreiben Fachleute für Arbeitspolitik und Wirtschaftsrecht.

Die Tarifbindung ist in Deutschland seit den 1990er-Jahren massiv zurückgegangen. Waren 1995 noch mehr als 80 Prozent der Beschäftigten bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt, so ist es heute etwa die Hälfte. Nur noch jeder vierte Betrieb ist an einen Tarifvertrag gebunden. „Die Erosion des Tarifvertragssystems ist zum drängenden gesellschafts-, verteilungs- und auch sozialpolitischen Pro­blem geworden“, schreiben Florian Rödl und Felix Syrovatka von der FU Berlin sowie Johanna Wolff von der Universität Osnabrück in einem Beitrag für die Zeitschrift für Rechtspolitik. Die Fachleute aus den Bereichen Rechts- und Politikwissenschaft fordern „mutige Reformschritte“. Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Tariftreuegesetz, wonach öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden dürfen, sei ein Schritt in die richtige Richtung. Es reiche aber allein nicht aus.

Newsletter abonnieren

Alle 14 Tage Böckler Impuls mit Analysen rund um die Themen Arbeit, Wirtschaft und Soziales im Postfach: HIER anmelden!

In ihrem Beitrag stellen Rödl, Syrovatka und Wolff dar, wie ein Aktionsplan für eine Stärkung der Tarifbindung in Deutschland aussehen könnte. Er ist aus der Arbeit des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Kollegs „Gerechtigkeit durch Tarifvertrag“ hervorgegangen und enthält detaillierte Vorschläge für Änderungen des Tarifvertragsgesetzes. Konkret werden vier Maßnahmen vorgeschlagen:

1. Nachwirkung von Tarifverträgen stärken

Arbeitgeber, die sich der Tarifbindung entziehen wollen, haben es derzeit leicht: Erst erfolgt der Austritt aus dem Arbeitgeberverband oder die Veräußerung eines Betriebsteils, anschließend können neue Arbeitsverhältnisse zu untertariflichen Bedingungen begründet und Tarifverträge durch geänderte Arbeitsverträge unterlaufen werden. Mehrere Änderungen im Tarifvertragsgesetz könnten dem einen Riegel vorschieben. Im Kern geht es darum, zu verhindern, dass tarifvertragliche Regelungen durch individuelle Vereinbarungen ersetzt werden. Auch neu begründete Arbeitsverhältnisse sollten den bestehenden Rechtsnormen unterliegen. Nach Ablauf eines Tarifvertrages sollten seine Rechtsnormen weiter gelten, bis sie durch einen anderen Tarifvertrag abgelöst werden. Zumindest in den tariflichen Kernbereichen ist dann immer eine tarifliche Nachfolgeregelung erforderlich – auch bei einem Betriebsübergang auf einen neuen Arbeitgeber.

2. OT-Mitgliedschaften abschaffen

Die Erosion der Tarifbindung ist auch darauf zurückzuführen, dass den Gewerkschaften häufig keine verhandlungswilligen Arbeitgeberverbände mehr gegenüberstehen. Einige Arbeitgeberverbände ermöglichen Unternehmen, Mitglied zu werden, ohne sich an die vereinbarten Tarifverträge zu halten. Damit tragen sie zur Zersplitterung des Tarifvertragssystems bei. Die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung, auch OT-Mitgliedschaft genannt, sollte nach Ansicht von Rödl, Syrovatka und Wolff abgeschafft werden. Im Tarifvertragsgesetz sollte klargestellt werden, dass alle Mitglieder der Tarifvertragsparteien – also Gewerkschaften, einzelne Arbeitgeber und Arbeitgeberverbände – die vereinbarten Regelungen einhalten müssen.

3. Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder erlauben

Um gute Tarifabschlüsse durchsetzen zu können, brauchen Gewerkschaften eine starke Verhandlungsbasis. Diese ist umso stärker, je mehr Mitglieder sie haben. Das Problem: Von den Verträgen, die Gewerkschaften aushandeln, profitieren nicht nur ihre Mitglieder, sondern die gesamte Belegschaft. „Trittbrettfahrer“ erhalten die gleichen Vorteile und haben daher wenig Anreiz, einer Gewerkschaft beizutreten. Dies könnte sich ändern, wenn Tarifverträge spezifische Vorteile für Mitglieder enthalten. Regelungen, die eine echte Besserstellung vorsehen, sollten im Gesetz ausdrücklich anerkannt werden, so die Wissenschaftler und die Wissenschaftlerin. Das Grundrecht auf Gleichbehandlung stehe dem nicht entgegen. Schließlich machen Gewerkschaftsmitglieder durch ihre Beiträge und ihr Engagement erfolgreiche Tarifabschlüsse erst möglich. 

Mehr Hören

HSI-Direktor Ernesto Klengel spricht im Podcast Systemrelevant über die Allgemeinverbindlicherklärung und warum sie ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Tarifbindung ist.

 

4. Allgemeinverbindlicherklärung erleichtern

Ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Tarifbindung ist die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE). Sie bewirkt, dass die von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ausgehandelten Regelungen auch für alle nicht tarifgebundenen Betriebe der jeweiligen Branche gelten. Allerdings ist die AVE aktuell nicht durchsetzbar, wenn die Arbeitgeberseite ihre Zustimmung verweigert. Um die Durchsetzung zu erleichtern, sollte ein Tarifvertrag künftig auf Antrag einer Tarifvertragspartei durch Verwaltungsakt für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wenn dies im öffentlichen Interesse geboten erscheint und ein paritätisch besetzter Tarifausschuss nicht widerspricht. Das öffentliche Interesse ist gegeben, wenn der Tarifvertrag „für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen hinreichende und im Verhältnis zu kollidierenden Tarifverträgen überwiegende Bedeutung erlangt hat“. Dies bedeutet, dass es – anders als bisher – keinen Schwellenwert für den Anteil der von einem Tarifvertrag erfassten Beschäftigten gibt. Lediglich völlig unbedeutende Tarifverträge sind von der Allgemeinverbindlicherklärung ausgeschlossen.

„Die Tarifautonomie bildet den Kern eines sozialen Arbeitsrechts, weil sie das Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten begrenzt und ein Stück soziale Selbstbestimmung verwirklicht. Tarifverträge sorgen für bessere Arbeitsbedingungen und entlasten den Staat. Dafür brauchen sie aber auch einen rechtlichen Rahmen auf der Höhe der Zeit“, sagt Ernesto Klengel, wissenschaftlicher Direktor des HSI. „Hier ist der Staat in der Pflicht – aus sowohl verfassungsrechtlichen als auch europarechtlichen Gründen.“ Denn: Die europäische Richtlinie zu Mindestlöhnen und Tarifbindung verpflichtet alle EU-Mitgliedstaaten, in denen weniger als 80 Prozent der Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt sind, ab November 2024 konkrete Aktionspläne zur Erhöhung der Tarifbindung vorzulegen. „Das gilt auch und gerade für Deutschland“, so Klengel.

Florian Rödl, Felix Syrovatka, Johanna Wolff: Zukunft der Tarifautonomie, Aktionsplan für eine Rückkehr zu flächendeckender Tarifbindung, Zeitschrift für Rechtspolitik 2024, 5

Impuls-Beitrag als PDF

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrem Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen