Quelle: HBS
Böckler ImpulsTarifverträge: Mehr Geld, früher Feierabend
Beschäftigte profitieren in mehrfacher Hinsicht, wenn für sie ein Tarifvertrag gilt. Bei der Tarifbindung gibt es erhebliche regionale Unterschiede – und insgesamt eine Erosion. Zeit für die Umsetzung eines von der EU vorgeschriebenen Aktionsplans.
Ohne Tarifvertrag sind die Arbeitsbedingungen deutlich schlechter: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten im Mittel wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen trotzdem 11 Prozent weniger als in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung. In Zeiten stark steigender Lebenshaltungskosten verfügen sie deswegen seltener über ein finanzielles Polster. Das ist das Ergebnis einer neuen WSI-Studie, für die Malte Lübker und Thorsten Schulten Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ausgewertet haben.
Die Studie belegt, dass der deutliche Rückgang der Tarifbindung seit der Jahrtausendwende negative Konsequenzen für die Beschäftigten und die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten hat. Indirekt wirkt er sich auch auf die Einnahmen von Sozialversicherungen und öffentlicher Hand aus. Während im Jahr 2000 noch mehr als zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland in tarifgebundenen Betrieben tätig waren, lag dieser Anteil 2021 nur noch bei gut der Hälfte. Dabei gibt es ein deutliches West-Ost-Gefälle: So lag der Anteil der tarifgebundenen Arbeitsplätze in Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen nach den jüngsten verfügbaren Zahlen noch zwischen 59 und 55 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Brandenburg und Thüringen kommen hingegen nur noch auf einen Anteil von 41 bis 46 Prozent.
Bei den Löhnen ist insbesondere in Ostdeutschland der Rückstand der tariflosen Betriebe sehr ausgeprägt. Deren Beschäftigte verdienen in Brandenburg rund 15 Prozent weniger als Menschen in tarifgebundenen Betrieben, die hinsichtlich der Betriebsgröße, des Wirtschaftszweiges, der Qualifikationsstruktur der Belegschaft und des Standes der technischen Anlagen vergleichbar sind. In Sachsen-Anhalt beträgt der Rückstand 14 Prozent. Um auf ein volles Jahresgehalt von Beschäftigten mit Tarifvertrag zu kommen, müssten diejenigen ohne Tarifvertrag hier bis in den März des Folgejahres arbeiten.
Bei der Arbeitszeit sind die Unterschiede in Westdeutschland besonders eklatant. Die Gewerkschaften haben hier bereits in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren deutliche Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen können, die allerdings nur für tarifgebundene Betriebe gelten. Am größten ist die Differenz in Baden-Württemberg, wo Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Unternehmen regulär fast anderthalb Stunden pro Woche zusätzlich arbeiten. In Bremen und im Saarland ist es jeweils etwa eine Stunde. Über das Jahr gesehen entspricht dies mehr als einer zusätzlichen Arbeitswoche.
„Die Ergebnisse belegen erneut, dass Tarifverträge für die Beschäftigten handfeste Vorteile bringen“, erklärt Lübker. „Es lohnt sich deshalb, gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen für einen Tarifvertrag zu kämpfen – auch wenn der Weg dahin oft nicht einfach ist.“ Die sich verschärfenden Fachkräfteengpässe am Arbeitsmarkt machten Tarifbindung jedoch auch für Arbeitgeber zunehmend attraktiv. Ein tarifgebundener Betrieb bekenne sich klar zu fairen Löhnen und geregelten Arbeitsbedingungen. Das mache ihn für Stellensuchende interessant – und könne die Belegschaft davon abhalten, zur Konkurrenz abzuwandern.
Starke Gewerkschaften und handlungsfähige Arbeitgeberverbände sind die Grundlage für ein Wiedererstarken der Tarifbindung in Deutschland, heißt es in der Studie. Doch auch die Politik könne hierzu einen Beitrag leisten, indem sie die richtigen Rahmenbedingungen setzt. In Nachbarländern wie Belgien, Österreich und Frankreich werden deutlich über 90 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Diese Länder erfüllen damit schon den Richtwert von 80 Prozent, der in der neuen Europäischen Mindestlohnrichtlinie als Ziel festgelegt ist. Alle anderen EU-Länder – darunter auch Deutschland – sind nach europäischem Recht künftig verpflichtet, einen Aktionsplan mit konkreten Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung vorzulegen. Das sollte Deutschland rasch tun, wirksame Instrumente dafür seien seit langem bekannt, so Lübker und Schulten.
Aufgrund der zweijährigen Frist für die Umsetzung der Richtlinie hat Deutschland hierfür bis zum 15. November 2024 Zeit. „So lange sollte die Bundesregierung aber nicht warten. Viele konkrete Maßnahmen, die dieser Aktionsplan enthalten könnte, werden bereits seit einiger Zeit diskutiert“, sagt Lübker. Dazu zählen eine weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von bestehenden Tarifverträgen sowie Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge.
Weitere Vorschläge finden sich in einem Eckpunktepapier, das Arbeitsminister Hubertus Heil und der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im März 2021 vorgelegt haben. Dazu gehört ein bundesweiter Vergabemindestlohn, der für tariftreue Betriebe zusätzlich Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ mit Dumpinglöhnen schaffen würde. Ein weiterer Hebel sind Tariftreueregelungen bei Versorgungsverträgen im Gesundheitswesen und in der Pflege. Ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften zu den Betrieben würde es erleichtern, die Beschäftigten zu erreichen und gewerkschaftlich zu organisieren.
Malte Lübker, Thorsten Schulten: Tarifbindung in den Bundesländern: Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 96, April 2023