Quelle: HBS
Böckler ImpulsGesundheitspolitik: Mehr für Medizin, solidarisch finanziert
Ein leistungsfähiges Gesundheitssystem kostet Geld. Das ist der Bevölkerung bewusst. Die Mehrheit befürwortet daher steigende oder zumindest gleichbleibende Gesundheitsausgaben – vorausgesetzt, die Finanzierung erfolgt solidarisch.
Kopfpauschale versus Bürgerversicherung: Dieser Streit ist nicht beendet, sondern nur vertagt. Der 2007 eingerichtete Gesundheitsfonds lässt eine Weiterentwicklung in beide Richtungen zu. Angesichts des medizinischen Fortschritts und der demografischen Entwicklung erwarten viele Experten, dass die Gesundheitsausgaben mittelfristig schneller steigen werden als die Einnahmen. Dass die Debatte um eine grundlegende Reform des Gesundheitswesens wieder ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen rückt, scheint daher nur eine Frage der Zeit zu sein.
Aber wie steht die Bevölkerung eigentlich zur Zukunft des Gesundheitssystems? Das haben Claus Wendt, Elias Naumann und Julia Klitzke von den Universitäten Siegen und Mannheim untersucht. Sie stützen sich dabei auf eine repräsentative Befragung mit gut 1.200 Teilnehmern von 2013. Es zeigt sich:
- Mehr als die Hälfte sieht deutlichen Reformbedarf im Gesundheitswesen. In einer vergleichbaren Umfrage Mitte der 1990er-Jahre hatte sich erst ein Fünftel entsprechend geäußert.
- 73 Prozent sehen es als Aufgabe von Staat und Krankenkassen, eine umfassende Gesundheitsversorgung, nicht nur eine Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Im Jahr 1996 hatten diesem Punkt lediglich 64 Prozent der Befragten zugestimmt.
- Nur etwa jeder Zehnte meint, Staat oder Krankenkassen sollten für Gesundheit weniger Geld ausgeben. Die meisten halten gleichbleibende oder höhere Ausgaben für nötig. Jeder Dritte ist bereit, persönlich mehr zu bezahlen, „um die Gesundheitsversorgung für alle Menschen in Deutschland zu verbessern“.
- Konfrontiert mit mehreren Vorschlägen, wie sich Einnahmen und Ausgaben des Gesundheitssystems im Gleichgewicht halten lassen, beziehen die Befragten recht unterschiedliche Positionen. Deutlich wird aber: Am unbeliebtesten sind Leistungseinschränkungen; Sparpotenzial sehen die meisten bei der Vergütung von Ärzten und Apothekern. Steuererhöhungen würden auf etwas größere Akzeptanz stoßen als steigende Krankenkassenbeiträge.
- Private Selbst- und Zuzahlungen sehen viele mit Skepsis. Vor allem bei der inzwischen wieder abgeschafften Praxisgebühr plädierten über 80 Prozent für ersatzloses Streichen. Die Zuzahlungen beim Zahnarzt wollen zwei Drittel der Interviewten senken oder ganz streichen. Am ehesten erfahren noch die Zusatzgebühren für den Krankenhausaufenthalt eine gewisse Zustimmung. Knapp die Hälfte will sie beibehalten oder sogar erhöhen.
- 83 Prozent sind gegen pauschale, nicht ans Einkommen gekoppelte Versicherungsbeiträge. Dies gilt unabhängig davon, wie hoch eine Kopfpauschale ausfallen würde. Selbst bei einem unrealistisch niedrigen Wert von 100 Euro im Monat äußern sich vier Fünftel ablehnend.
Hier zeige sich, so Wendt, Naumann und Klitzke, „eine nach wie vor hohe Solidarität in der deutschen Bevölkerung, wenn es um die Frage der Absicherung im Krankheitsfall geht“. Im Übrigen seien die eigene wirtschaftliche Situation und die Haltung zur Kopfpauschale nur schwach korreliert: In höheren Einkommensgruppen sind Befürworter zwar häufiger, bilden aber auch dort keine Mehrheit.
In den vergangenen Jahren wandten die Deutschen etwa elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit auf. Zwei Drittel davon finanzierte die Sozialversicherung, die anderen Ausgaben speisten sich aus Steuern, privaten Krankenversicherungsbeiträgen sowie Selbst- und Zuzahlungen.
Claus Wendt, Elias Naumann, Julia Klitzke: Reformbedarf im deutschen Gesundheitssystem aus Sicht der Bevölkerung, in: Zeitschrift für Sozialreform 4/2014