Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitszeit: Mehr Freizeit wagen
Steigende Arbeitsproduktivität und wachsende Einkommen müssten ein auskömmliches Leben und mehr Freizeit ermöglichen. Seit den 1980er-Jahren ist allerdings etwas anderes zu beobachten.
1930 prognostizierte der berühmte britische Ökonom John Maynard Keynes, dass wir im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten müssten, um gut leben zu können. Er ging davon aus, dass die Produktivität bis dahin so weit gestiegen sein würde, dass entsprechende Arbeitszeitverkürzungen ohne Verzicht auf einen hohen Lebensstandard möglich sein würden. Aber wie haben sich die Dinge tatsächlich entwickelt? Das haben Jan Behringer vom IMK sowie Martin Gonzales Granda und Till van Treeck von der Universität Duisburg-Essen untersucht. In puncto Produktivitätsentwicklung lag Keynes richtig: Seine Prognosen seien „in den letzten knapp 100 Jahren sogar noch übertroffen“ worden, schreiben die Forscher. Bei der Arbeitszeit sieht es jedoch anders aus, wie eine Analyse US-amerikanischer und europäischer Daten zeigt.
Zunächst schien sich Keynes' Vorhersage zu erfüllen. Im Zeitraum von 1950 bis 1980, gelegentlich als „goldenes Zeitalter des Kapitalismus“ bezeichnet, gingen die Wochenarbeitszeiten praktisch in allen Industrieländern zurück. Aus einer regelmäßig wiederholten Umfrage in den USA lässt sich zudem ablesen, dass mit den kürzeren Arbeitszeiten keine Einbußen beim – subjektiv empfundenen – materiellen Wohlstand verbunden waren: 1950 gaben die befragten Haushalte im Durchschnitt an, dass für ein zufriedenstellendes Leben 68 Prozent des damaligen mittleren Einkommens ausreichen würden. Bis 1980 fiel der Wert auf 53 Prozent. Trotz Arbeitszeitverkürzung um durchschnittlich rund 200 Stunden im Jahr sind die Einkommen seinerzeit schneller gestiegen als die Ansprüche. Es schien, als würden sich „die materiellen Bedürfnisse der Menschen erfüllen und sie würden es vorziehen, ihre Zeit nun vermehrt nichtwirtschaftlichen Zwecken zu widmen, anstatt weiterhin lange zu arbeiten“, so die Forscher. Letzteres wäre ihrer Meinung nach auch heute willkommen, etwa mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie Klimaschutz oder die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Doch seit den 1980er-Jahren hat die „materielle Sättigung“ offenbar „einem neuen und wachsenden Gefühl des finanziellen Mangels in weiten Teilen der Bevölkerung Platz gemacht“. Die Höhe des als notwendig erachteten Einkommens in den USA ist wieder gestiegen. 2007 lag sie es im Verhältnis zum tatsächlichen mittleren Einkommen wieder beim Wert von 1950. Die Jahresarbeitszeiten stiegen zwischen 1980 und 2000 wieder um rund 150 Stunden an. Ähnliches, schreiben die Forscher, sei auch in anderen Industrieländern zu beobachten.
Gleichzeitig, so Behringer, Gonzales Granda und van Treeck, nahm die Ungleichheit der Einkommen in den USA und mit Verzögerung auch in Europa zu. Ihre Berechnungen zeigen, „dass der Einkommensanteil der Spitzenverdiener positiv mit der durchschnittlichen Arbeitszeit zusammenhängt“. Wobei gerade Beschäftigte mit höheren Löhnen wieder länger arbeiten. Eine mögliche Erklärung: „Insbesondere die obere Mittelschicht eifert den Konsumnormen der Reichen nach und opfert dafür Freizeit.“ Die Mittelschicht fühle sich im „neoliberalen Zeitalter“ unter Druck gesetzt. Sie verausgabe sich beispielsweise, um im Rennen um gute Bildung und gute Wohngegenden mitzuhalten – während die unteren Einkommensgruppen eher aufgeben, weil der Vorsprung der Reichen für sie uneinholbar geworden ist.
Die Forscher haben bei ihren Analysen auch Faktoren gefunden, die dem Ausufern der Arbeitszeit entgegenwirken. Dazu zählen zentralisierte Lohnverhandlungen, in denen „die Beschäftigten sich gemeinsam gegen ein positionales Wettrüsten zulasten der Freizeit entscheiden können“, und eine gut ausgebaute öffentliche Daseinsvorsorge, die „die Notwendigkeit von statusorientierten privaten Ausgaben“ reduziert, beispielsweise für Bildung oder Mobilität.
Entsprechend könnten die Stärkung von Flächentarifen und ein Ausbau der öffentlichen Infrastruktur Beschäftigten den „Ausstieg aus dem Hamsterrad“ ermöglichen. Auch Arbeitsmarktreformen – Vier-Tage-Woche, Sabbatjahre, Freiräume für gemeinwohlorientierte Tätigkeiten ohne Risiko des Jobverlusts – erachten die Wissenschaftler für hilfreich.
Jan Behringer, Martin Gonzales Granda, Till van Treeck: Varieties of the rat race. Working hours in the age of abundance (pdf), ifso working paper Nr. 17, März 2022