Quelle: HBS
Böckler ImpulsRückläufige Tarifbindung: Mehr Arbeit für weniger Lohn
Ohne Tarifvertrag fehlt Beschäftigten ein volles Monatsgehalt – und pro Jahr fällt eine Woche Mehrarbeit an.
Wer in einem tarifgebundenen Betrieb arbeitet, hat deutlich bessere Arbeitsbedingungen als in vergleichbaren Betrieben ohne Tarifbindung. So arbeiten Vollzeitbeschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben durchschnittlich 53 Minuten pro Woche länger und verdienen dennoch gut 10 Prozent weniger als Beschäftigte in tarifgebundenen Betrieben, die sich hinsichtlich Betriebsgröße, Wirtschaftszweig, Qualifikationsstruktur der Beschäftigten und technischer Ausstattung nicht unterscheiden. Auf das Jahr gerechnet entspricht dies gut einer zusätzlichen Arbeitswoche, gleichzeitig fehlt mehr als ein volles Monatsgehalt auf dem Konto. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des WSI, die auf Basis von Daten des repräsentativen IAB-Betriebspanels die Entwicklung der Tarifbindung in Deutschland untersucht.
Die Studie zeigt damit, dass der deutliche Rückgang der Tarifbindung seit der Jahrtausendwende negative Folgen für die Beschäftigten und die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten hat. Indirekt sind davon auch die Einnahmen der Sozialversicherungen und der öffentlichen Hand betroffen. Während im Jahr 2000 noch 68 Prozent der Beschäftigten in Deutschland in tarifgebundenen Betrieben arbeiteten, waren es 2023 nur noch 49 Prozent. Der schleichende Rückgang hat inzwischen auch die Europäische Kommission alarmiert. Nach EU-Recht müssen künftig alle Länder, in denen die Tarifbindung unter 80 Prozent liegt, einen Aktionsplan zur Stärkung der Tarifbindung vorlegen.
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Bei den Löhnen ist der Rückstand tarifloser Betriebe in Ostdeutschland besonders ausgeprägt: In Brandenburg verdienen Beschäftigte in Betrieben ohne Tarifvertrag rund 15 Prozent weniger als in vergleichbaren Betrieben mit Tarifvertrag. Auch in Sachsen ist der Rückstand mit fast 14 Prozent überdurchschnittlich hoch. Bei den Arbeitszeiten sind die Unterschiede in einigen westdeutschen Bundesländern besonders groß. Hier konnten die Gewerkschaften bereits in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren deutliche Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen, die allerdings nur für tarifgebundene Betriebe gelten. Am größten ist der Unterschied in Baden-Württemberg, wo Vollzeitbeschäftigte in nicht tarifgebundenen Betrieben regelmäßig fast eineinhalb Stunden pro Woche länger arbeiten.
„Für einen Tarifvertrag zu kämpfen, macht sich für die Beschäftigten direkt bezahlt – und schafft für unser Land ein Stück mehr Gerechtigkeit“, sagt Malte Lübker, einer der Autoren der Studie. „Unsere Forschung am WSI zeigt, dass Tarifbindung für Beschäftigte auch eine höhere gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, über materielle Vorteile hinaus: Rechte zu haben und ausüben zu können, stärkt die demokratische Integration in der Arbeitswelt“, erklärt Bettina Kohlrausch, die wissenschaftliche Direktorin des WSI. In Zeiten des Fachkräftemangels auf dem Arbeitsmarkt sei die Tarifbindung aber auch für die Arbeitgeber von Vorteil: „Wer als Arbeitgeber tarifgebunden ist, bekennt sich klar zu fairen Löhnen und geregelten Arbeitsbedingungen“, so Lübker. „Das macht einen Arbeitgeber für Stellensuchende interessant – und kann die Belegschaft davon abhalten, zur tariftreuen Konkurrenz abzuwandern.“
Starke Gewerkschaften und handlungsfähige Arbeitgeberverbände seien die Basis für eine Stärkung der Tarifbindung in Deutschland, heißt es in der Studie. Aber auch die Politik könne mit den richtigen Rahmenbedingungen dazu beitragen. Sinnvolle Maßnahmen seien die weitere Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung bestehender Tarifverträge sowie Tariftreueregelungen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge. Ein bundesweiter Vergabemindestlohn biete tariftreuen Unternehmen zusätzlichen Schutz vor „Schmutzkonkurrenz“ mit Dumpinglöhnen. Hilfreich wären außerdem Tariftreueregelungen bei Versorgungsverträgen im Gesundheits- und Pflegebereich. Ein digitales Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu den Betrieben würde es erleichtern, die Beschäftigten zu erreichen und gewerkschaftlich zu organisieren.
Malte Lübker, Thorsten Schulten: Tarifbindung in den Bundesländern: Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten, Analysen zur Tarifpolitik Nr. 103, April 2024