Gesundheitspolitik: Medizinsystem: Teures Mittelmaß
Die Kosten sind hoch, die Gesundheitsdaten der Bevölkerung nur mittelmäßig - das deutsche Medizinsystem hat Qualitätsdefizite. Durch mehr Wettbewerb ließen sich die Gesundheitsmilliarden effizienter einsetzen, diagnostizieren Wissenschaftler der Uni Duisburg-Essen. Die Reform der großen Koalition bringt einige Fortschritte, sie geht aber nicht weit genug.
Höhere Krankenkassensätze, mehr Steuerfinanzierung, Zusatzbeiträge - bei der Gesundheitsdebatte steht einmal mehr die Einnahmeseite im Vordergrund. Das angestrebte Ziel: Die Finanzbasis der Krankenversicherung zu sichern. Viele Wissenschaftler sind sich einig, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung dieses Ziel verfehlt. Ein wesentlicher Grund: Gesetzliche und private Krankenversicherungen agieren nach wie vor auf künstlich abgeschotteten Märkten. Das bringt den gesetzlich Versicherten Nachteile, weil sich die privaten Versicherungen und ihre Mitglieder weiterhin nicht am Solidarausgleich für Menschen mit geringem Einkommen oder chronischen Krankheiten beteiligen müssen.
Unabhängig von der Einnahmeproblematik hat die Malaise des deutschen Gesundheitswesens noch eine ebenso wichtige, in der Öffentlichkeit oft eher unterbelichtete zweite Seite. Ein Forscherteam um Jürgen Wasem leuchtet sie in einer aktuellen, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie aus: Das Niveau der medizinischen Leistungen ist eher Mittelmaß als Weltspitze. Und das, obwohl die Deutschen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, mehr Geld für Ärzte, Krankenhäuser und Medikamente ausgeben und eine höhere Dichte an Medizinern und Klinikbetten haben als die Bewohner der meisten anderen Staaten. Zu diesem Ergebnis kommt die Mehrzahl der Untersuchungen, die der Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen und seine Mitarbeiter auswertet haben:
- Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzt Deutschland in ihrem "Weltgesundheitsreport" aus dem Jahr 2000 lediglich auf Platz 14. Die Einzelnoten für den deutschen Medizinbetrieb gehen relativ weit auseinander: Rang 5 beim Indikator "Patientensouveränität", der unter anderem misst, ob Kranke rasch einen Termin bekommen oder ihren Arzt frei wählen können. Hingegen gibt es nur Platz 22 in der Kategorie "Gesundheitszustand der gesamten Bevölkerung".
- Ein methodisch besserer und aktuellerer Vergleich der OECD (2006) verzichtet auf ein Gesamtranking. Bei den einzelnen Qualitätsindikatoren erzielen die Deutschen aber wiederum nur mittelmäßige bis magere Resultate. Beispielsweise sind Vorsorgeuntersuchungen weniger verbreitet als in anderen Ländern. Auch die Überlebensrate nach lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs oder Herzinfarkt liegt eher unter dem Durchschnitt.
- In einer internationalen Patientenbefragung des Commonwealth Fund von 2005 äußern sich Kranke aus Deutschland zu etlichen Einzelpunkten positiver als solche aus den USA, Großbritannien, Australien, Kanada oder Neuseeland. Doch gleichzeitig attestieren 85 Prozent der befragten Deutschen ihrem Gesundheitswesen fundamentalen Änderungsbedarf.
Ein Nebeneinander von "Über-, Unter- und Fehlversorgung" hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen bereits 2001 dokumentiert. Der Medizinkomplex verharre in traditionellen Strukturen und Leitbildern, analysierten die Experten. Die Symptome: Viele Ärzte seien nicht ausreichend darauf vorbereitet, dass in einer alternden Gesellschaft komplexe chronische Krankheiten zunehmen, deshalb werde bei der Linderung solcher Leiden ein erheblicher Teil des Budgets nicht effizient eingesetzt. Das Gesundheitssystem konzentriere sich auf Akutmedizin, vernachlässige Prävention und Rehabilitation. Kranke erhielten oft nicht genug Informationen, um sich aktiv an der Behandlung ihrer Krankheit beteiligen zu können. Die verschiedenen "Sektoren" des Gesundheitssystems - niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser, Pflege- und Reha-Einrichtungen sowie Apotheken - arbeiteten nicht gut genug zusammen. Gerade bei chronischen Leiden seien viele Therapien schlicht nicht auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Schließlich bekämen die Ärzte keine wirksamen finanziellen Anreize, bei der Arzneimittelverordnung auf optimale Wirksamkeit und ein möglichst gutes Preis-Leistungsverhältnis zu achten. Das kostet: drei Milliarden Euro allein 2004, so der Arzneimittelverordnungs-Report.
In den vergangenen Jahren habe die Politik durchaus etwas gegen die Schwerfälligkeit des Systems getan, konstatieren die Essener Gesundheitsökonomen. Die grundsätzlichen Probleme bestünden aber bis heute fort: "Zusammenfassend lässt sich jedoch festhalten, dass die Maßnahmen des Gesetzgebers bisher nur einen Bruchteil der Effizienz-, Effektivitäts- und Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem heben konnten." Ein echter Wettbewerb werde nach wie vor ausgebremst. Die beiden wichtigsten Gründe dafür: Erstens stoßen Akteure der verschiedenen Sektoren, die zusammenarbeiten wollen, schnell an die Grenzen der Abrechnungsstrukturen, denn die Budgets sind strikt sektorspezifisch voneinander getrennt. Zweitens haben die Krankenkassen nur wenig Einfluss darauf, welche medizinischen Leistungserbringer sie unter Vertrag nehmen. So ist etwa zwischen Kassen und Ärzte das Kollektiv-System der Kassenärztlichen Vereinigungen geschaltet.
Eine Erfolg versprechende Reform müsse an diesen Punkten ansetzen, fordern die Essener Wissenschaftler. An diesem Anspruch messen sie auch die Gesundheitsreform der großen Koalition. Die wichtigsten Befunde:
=> Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (RSA).
Er soll Anreize für die Krankenkassen setzen, Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu erhöhen, statt ihre Marktposition durch die gezielte Werbung um junge und
gesunde Mitglieder zu verbessern. Durch einen morbiditätsorientierten RSA sind kranke Versicherte keine "schlechten Risiken" mehr, weil die Kasse angemessene Ausgleichszahlungen erhielte. Stattdessen wird sich auch Wettbewerb um Kranke lohnen und der Anreiz verstärkt, besonders gute Leistungserbringer unter Vertrag zu nehmen und attraktive Versorgungsangebote zu entwickeln. Die Gesundheitsreform bringt in diesem Punkt einige Verbesserungen, analysieren die Gesundheitsökonomen. Allerdings seien in wichtigen Detailregelungen die Hürden zu hoch.
=> Die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Versorgung.
Eine Budgetierung, die nach ambulanter und stationärer Versorgung streng trennt, behindert die Entwicklung von innovativen und integrativen Versorgungsformen, so die Forscher. Die Krankenkassen sollen deshalb die Freiheit haben, Verträge sektorenübergreifend so abschließen zu können, dass sie ihr Geld in diejenigen Versorgungsformen lenken, die gute Qualität und Wirtschaftlichkeit vereinen. Unabhängig davon, ob diese Versorgungsformen ambulante, stationäre oder teils ambulante, teils stationäre Einrichtungen sind. Die Gesundheitsreform räumt hier nach Analyse der Forscher einige Hürden beiseite. Die an sich positiven Neuregelungen zur Finanzierung seien aber an entscheidenden Stellen nicht bindend formuliert. Der Krankenhausbereich bleibe in weiten Teilen vom Vertragswettbewerb ausgenommen.
=> Vertragswettbewerb in der Arzneimittelversorgung.
Die einzelnen Krankenkassen sollten direkt mit den Herstellern über Preise, Mengen und Preis-Mengen-Kombinationen von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln verhandeln und dabei Rabatte erzielen können. Die Krankenkassen blieben verpflichtet, ihren Versicherten sämtliche als echte Innovationen bewertete Präparate zu erstatten. Bei bereits eingeführten Arzneimitteln müssten die Kassen nur mindestens ein Präparat aus zentral gebildeten Gruppen anbieten. Konsequenz wäre kassenindividuelle Positivlisten. Die Forscher sehen einige Fortschritte in der geplanten neuen Höchstpreisregelung. Ein wichtiger Schritt zu mehr Wirtschaftlichkeit bei der Arzneimitteldistribution stehe aber noch aus: Diese Reserven könnten "erst erschlossen werden, wenn der Gesetzgeber das Fremd- und Mehrbesitzverbot von Apotheken aufhebt".
Fazit der Forschergruppe um Professor Wasem: Auch auf der Ausgabenseite sei die Gesundheitsreform nur sehr eingeschränkt dazu geeignet, die Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems zu erhöhen. Ein halbwegs geschlossenes Wettbewerbskonzept sei nach wie vor nicht erkennbar.
Stefan Greß, Stephanie Maas, Jürgen Wasem: Effektivitäts-, Effizienz- und Qualitätsreserven im deutschen Gesundheitssystem, Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung, Oktober 2006.
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