Quelle: HBS
Böckler ImpulsCorporate Governance: Manager - von der Börse in die Irre geführt
In Shareholder-Value-orientierten Unternehmen werden wichtige Entscheidungen oft unter der unrealistischen Annahme "vollkommener" Finanzmärkte getroffen. Das schadet einzelnen Unternehmen und der gesamten Volkswirtschaft.
Die finanzmathematischen Modelle, mit denen viele Unternehmen ihre Geschäftspolitik steuern, haben erhebliche Schwächen. Sie stützen sich auf wenig aussagekräftige Kapitalmarkt-Kennzahlen und führen zu falschen Risikoeinschätzungen. Die Folge sind kurzatmige Managemententscheidungen, die vorübergehend den Aktienkurs beflügeln, aber langfristig das Unternehmen schwächen. Außerdem entstehen dadurch übersteigerte Ansprüche an die nötige "Mindestrendite" - was viele realwirtschaftliche Investitionsprojekte unattraktiv erscheinen lässt. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse des Finanzexperten Werner Gleißner, Lehrbeauftragter am Strategic Finance Institute der European Business School. Seine Untersuchung zeigt, wie börsengetriebene Manager systematisch Fehlentscheidungen produzieren.
Unternehmen verlassen sich nicht auf ihre eigenen Fähigkeiten, sondern auf schlechter informierte Aktienhändler. Das wichtigste Ziel des Managements besteht oft darin, den Unternehmenswert zu steigern. Das Problem ist laut Gleißner aber nicht diese Zielsetzung, sondern ein Missverständnis: "Wertorientierte" Unternehmensführung wird in der Regel mit "kapitalmarktorientierter" Unternehmensführung gleichgesetzt. Der wirkliche - von der nachhaltigen Ertragskraft abhängende - Wert des Unternehmens entspricht aber bloß in der Theorie seinem Börsenwert. "Beides stimmt nur überein, wenn man der Fiktion vollkommener Kapitalmärkte glaubt", so der Wissenschaftler. In der Realität spiegele der Aktienkurs oft nicht den fundamentalen Wert eines Unternehmens wider, sondern lediglich
- den "Preis einer marginal kleinen Veränderung von Eigentumsanteilen" sowie
- die Stimmungslage und Erwartungen der oft irrational handelnden Anleger.
- Zudem wird der Kurs von Kapitalmarktteilnehmern gesteuert, die Chancen und Probleme schlechter einschätzen können als die Spezialisten im Unternehmen selbst.
Wegen des "Informationsvorsprungs der Unternehmensführung gegenüber dem Kapitalmarkt" bringe es oft nichts, die Unternehmenspolitik am Börsenkurs auszurichten, schreibt Gleißner. Genau dies täten die heute in den meisten Großunternehmen genutzten Steuerungssysteme jedoch. So unterbleiben am Ende etwa Investitionen in den Maschinenpark, weil es dem Kurs vorübergehend mehr nützt, wenn das Geld stattdessen in Aktienrückkäufe gesteckt wird.
Besser als eine Fixierung auf den Aktienkurs wäre es, sich auf die langfristig zu erzielenden Einnahmen zu konzentrieren: "Wertorientiertes Management ist gerade nicht auf kurzfristige Gewinnmaximierung ausgerichtet", sondern auf die Zukunftsperspektiven - auch für Kunden und Mitarbeiter, erklärt der Wissenschaftler. Das hektische Auf und Ab des Börsenkurses sei für das Alltagsgeschäft meist ohne Bedeutung. Ausnahmen sind lediglich Situationen, in denen der Kurs so weit gefallen ist, dass eine feindliche Übernahme droht oder Banken keine Kredite mehr geben wollen.
Überzogene Renditeforderungen - eine Folge realitätsferner Rechenmodelle. Ob ein Unternehmen eine neue Fertigungsstraße einrichtet, hängt davon ab, welche Einnahmen die neue Produktionslinie verspricht. Die erwartete Rendite-Risiko-Relation muss günstiger sein als die potenzieller Alternativinvestitionen, damit ein Projekt realisiert wird. Andernfalls könnte sich das Management dem Vorwurf aussetzen, das Kapital der Shareholder nicht effizient einzusetzen.
Die Modelle zur Berechnung der Mindestanforderungen an ein Investitionsprojekt verwenden historische Kapitalmarkt-Daten als Vergleichsmaßstab. Ergebnisse aus der internen Risikoanalyse kommen dem Wissenschaftler zufolge zu kurz. Wegen ihrer vereinfachenden Lehrbuch-Annahmen unterschätzen die heute verwendeten Formeln systematisch die Risiken von Finanzanlagen, argumentiert der Finanzexperte. Zudem waren die vom Kapitalmarkt vorgegebenen Vergleichsrenditen durch starke Kursanstiege bis 2007 nach oben verzerrt. So kommt es, dass die minimal erwarteten Eigenkapitalrenditen in vielen Unternehmen deutlich über acht Prozent liegen - was laut Gleißner ein realistischer Referenzwert wäre, der sich aus langfristigem nominalen Wirtschaftswachstum und durchschnittlicher Dividendenrendite ergibt. Das Resultat: Viele eigentlich lohnende Investitionen fallen beim Wirtschaftlichkeitstest durch, "mit den entsprechenden negativen Konsequenzen für Wachstum und Wertentwicklung des Unternehmens, das Wachstum der gesamten Volkswirtschaft und die Arbeitsplätze".
Überzogene Renditeerwartungen und falsche Risikoeinschätzungen, die aus dem Glauben an perfekt funktionierende Kapitalmärkte resultieren, waren dem Wissenschaftler zufolge auch ein wesentlicher Grund für die Finanzkrise: Die Möglichkeit, dass die Wertpapierkurse plötzlich auf breiter Front einbrechen könnten, sahen die Risikomodelle nicht voraus, weil sie sich im Wesentlichen auf Kursdaten aus der Vergangenheit stützten und beispielsweise volkswirtschaftliche Zusammenhänge ignorierten.
Werner Gleißner: Kapitalmarktorientierung statt Wertorientierung, in WSI-Mitteilungen 6/2009