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HBS Böckler Impuls

Gesundheit: Leistungen für die Allgemeinheit belasten gesetzliche Krankenversicherung

Ausgabe 18/2008

In den vergangenen Jahrzehnten hat die gesetzliche Krankenversicherung immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, für die sie eigentlich gar nicht zuständig ist. Eine neue Studie zeigt: Wäre das nicht so, könnte der Beitragssatz von jetzt 14,9 auf 10,35 Prozent gesenkt werden.

Ab Januar 2009 werden nach dem Willen der Bundesregierung gesetzlich Versicherte einen Beitragssatz von 15,5 Prozent zu zahlen haben - und damit 0,6 Prozentpunkte mehr, als momentan im Durchschnitt fällig sind. Nun debattiert die Öffentlichkeit darüber, ob die Einnahmen der Kassen ausreichen werden.

Eine andere Frage gerät dabei ins Hintertreffen: die der Quersubventionierung anderer Sozialsysteme und des Staates über die Versichertenbeiträge der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel (IGSF) hat sich mit Unterstützung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung diesem Thema gewidmet. Das Ergebnis: Nach dem Stand von 2008 ergibt sich eine Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Entlastung anderer Sozialsysteme und des Staates von jährlich 45,5 Milliarden Euro. Bei einer kostendeckenden Abgeltung der Leistungen könnte der Beitragssatz für Versicherte um 4,55 Beitragssatzpunkte gesenkt werden, so das IGSF.

Das Grundprinzip der Berechnungen: Die Mitglieder eines Sozialsystems sollten einen Beitrag nur in der Höhe zahlen, der ausschließlich für die Erfüllung der Aufgaben dieses Systems erforderlich ist. Dies schließt die Finanzierung von Leistungen an Dritte aus. Die gesetzliche Krankenversicherung habe jedoch zunehmend Leistungen übertragen bekommen, "die sozial-, familien- oder gesellschaftspolitisch begründet sind, ohne dass die für diese Leistungen entstehenden Kosten gedeckt werden konnten", konstatieren die Forscher. "Entlastet wurden andere Sozialsysteme und der Staat."

Dabei definiert das IGSF folgende Ursachen für Quersubventionierungen:

Gesetzgebung seit 1989. Dazu zählen die Kieler unter anderem die finanziellen Auswirkungen der Hartz-IV- und der Rentenreformgesetze. Insgesamt ergibt sich eine Mehrbelastung von rund 11 Milliarden Euro im Jahr.

Versicherungsfremde Leistungen. Hierunter fassen die Forscher Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft, Mutterschaftsgeld, aber auch Kosten für eine Haushaltshilfe oder medizinische Vorsorgeleistungen wie Kuren. Diese Kosten veranschlagen die Wissenschaftler mit rund 4 Milliarden Euro jährlich.

Beitragsfreiheit oder reduzierter Beitrag. Kinder und Ehegatten oder Lebenspartner sind in der gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei mit versichert. Die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern sei jedoch nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft, sondern müsse von der Gesellschaft insgesamt getragen werden, so die Forscher.

Bei Ehegatten und Lebenspartnern sprechen sie sich für ein Ende der beitragsfreien Mitversicherung aus - mit Ausnahme der Fälle, in denen Kindererziehung oder Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen geleistet wird. Die Beitragsbefreiung während des Bezugs von Erziehungs-, Eltern- und Mutterschaftsgeld sei ebenfalls eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und somit nicht allein von den gesetzlich Versicherten zu tragen.

Auch die Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld werden in die gesetzliche Krankenversicherung mit einbezogen. Die Bundesagentur für Arbeit zahlt für sie jedoch nur reduzierte Krankenversicherungsbeiträge. Insgesamt ergibt sich eine Belastung infolge einer Beitragsbefreiung oder eines reduzierten Beitrags von rund 29 Milliarden Euro.

Mehrwertsteuer für Arznei- und Hilfsmittel. Deutschland erhebt auf Arzneimittel den vollen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent. In vielen anderen europäischen Staaten werden für Arzneimittel lediglich reduzierte Steuersätze erhoben, in fast allen gilt dies zumindest für verschreibungspflichtige Medikamente. Läge in Deutschland für Arznei- und Hilfsmittel der Mehrwertsteuersatz nur noch bei 7 Prozent, würden die gesetzlichen Krankenkassen um rund 4 Milliarden Euro pro Jahr entlastet.

Alles in allem kommen die Forscher damit auf eine zusätzliche Belastung von rund 48 Milliarden Euro. Zwar erhalten die Kassen einen Zuschuss aus dem Bundeshaushalt zur teilweisen Entlastung für Ausgaben von gesellschaftlich sinnvollen, aber  versicherungsfremden Leistungen. 2008 waren das jedoch lediglich 2,5 Milliarden Euro.

Die objektive Beurteilung solcher Berechnungen ist immer schwierig. So ist umstritten, ob der Staat jede Gesetzesänderung, die auch Auswirkungen auf die Krankenkassen hat, gegenfinanzieren sollte. Auch die Grenze zwischen Leistungen einer Sozialversicherung und versicherungsfremdem Transfer ist nicht eindeutig zu ziehen.

Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kam im Jahr 2005 jedoch zu ähnlichen Ergebnissen. Die Ökonomen Volker Meinhardt und Rudolf Zwiener bezifferten den von Arbeitnehmern durch Beiträge fehlfinanzierten Anteil an den Ausgaben der Krankenversicherung für 2002 auf 17 Prozent - 21,7 Milliarden Euro. Und warfen die Frage auf, "ob die Finanzierung von Ausgaben zur Unterstützung der Familie von einzelnen Gruppen oder gesellschaftlich zu tragen" sei.

Wenn Familienförderung als "von der gesamten Gesellschaft zu leistende Aufgabe angesehen" werde, liege ein "Fehleinsatz der Beiträge" vor - zumindest, solange ganze Personenkreise der Beitragspflicht entzogen sind: Beamte, Selbstständige und Arbeitnehmer mit Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze.  


Versicherungsfremde Leistungen - ein Überblick

Renten-, Kranken- Arbeitslosenversicherung: Alle erbringen Leistungen, die nicht nur ihren Versicherten zu Gute kommen.

Auf 467,2 Milliarden Euro beliefen sich die Ausgaben der Sozialversicherungsträger im Jahr 2007. Davon entfielen 234,7 Milliarden Euro auf die gesetzliche Rentenversicherung, 154,6 Milliarden Euro auf die gesetzliche Krankenversicherung und 37,6 Milliarden Euro auf die Bundesagentur für Arbeit. Überwiegend finanzieren sich die Sozialversicherungen aus Beiträgen. Hinzu kommen Zuschüsse des Bundes. Diese machen jedoch nicht wett, dass sämtliche Sozialversicherungsträger für Leistungen aufkommen müssen, die eigentlich von der Allgemeinheit getragen werden müssten, sprich: aus Steuermitteln finanziert werden sollten.

Rentenversicherung: Nach Berechungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gehören von zehn Euro, die die Rentenversicherung ausgibt, vier nicht zu ihren Kernleistungen. So reichen die Einnahmen der ostdeutschen Rentenversicherungsträger regelmäßig nicht aus, um die Ausgaben zu finanzieren. Auch diese Mittel müsste die Allgemeinheit aufbringen.

Krankenversicherung: Hier machen sämtliche Ausgaben für die Familienförderung - Leistungen bei Schwanger- und Mutterschaft oder die beitragsfreie Mitversicherung von Angehörigen - den größten Batzen aus. Je nach Definition belaufen sich die aus Beiträgen fehlfinanzierten Ausgaben auf zwischen 21,7 und 45,5 Milliarden Euro.

Arbeitslosenversicherung: Seit langem ist strittig, ob die Arbeitsförderung zu den Aufgaben der Versicherung ­gehört. Das DIW stuft Eingliederung und alle anderen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik als versicherungsfremd ein. Diese Leistungen sollten über Steuern finanziert werden, so die Forscher.  

  • Nach dem Stand von 2008 ergibt sich eine Belastung der gesetzlichen Krankenversicherung zur Entlastung anderer Sozialsysteme und des Staates von jährlich 45,5 Milliarden Euro. Zur Grafik
  • Die gesetzliche Krankenversicherung hat den größten Teil der Gesundheitsausgaben zu tragen. Zur Grafik

Fritz Beske, Markus Baumgärtner: Zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung - Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Finanzsituation der Gesetzlichen Krankenversicherung, Schriftenreihe des Fritz Beske Instituts für Gesundheits-System-Forschung Kiel, Band 110, Oktober 2008

Volker Meinhardt, Rudolf Zwiener: Gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Steuerfinanzierung versicherungsfremder Leistungen in der Sozialversicherung (pdf),  Gutachten des DIW im Auftrag des DGB-Bundesvorstands, der Hans-Böckler-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung, März 2005

Gutachten-Berichterstattung in Böckler Impuls 06/2005 Teil 1

Gutachten-Berichterstattung in Böckler Impuls 07/2005 Teil 2

Gutachten-Berichterstattung in Böckler Impuls 10/2005 Teil 3

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