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Längere Arbeitszeiten verschärfen Personalprobleme Böckler Impuls

Arbeitszeit: Längere Arbeitszeiten verschärfen Personalprobleme

Ausgabe 09/2024

Eine Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes könnte sich für Branchen mit Personalmangel als verheerend erweisen: Längere Arbeitszeiten würden die Jobs noch unattraktiver machen.

CDU, CSU, FDP und Arbeitgeberverbände wollen die bestehende Höchstarbeitszeit von in der Regel acht Stunden am Tag sowie die vorgeschriebene Mindestruhezeit von täglich elf Stunden am Stück „flexibilisieren“. Sie wollen die werktägliche Höchstgrenze zugunsten einer wöchentlichen Obergrenze aufgeben. Dabei sind die Spielräume in Sachen Arbeitszeit bereits heute groß und die negativen Folgen langer Arbeitstage eindeutig belegt. Darauf weist Hartmut Seifert, früherer Abteilungsleiter des WSI, hin. Er warnt nicht nur vor schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit betroffener Beschäftigter, sondern hält längere Arbeitszeiten auch für einen völlig falschen Ansatz, um Fachkräfteengpässen zu begegnen.

Digitalisierung, Projektarbeit, Homeoffice, eine zunehmend globale Arbeitswelt, in der über Zeitzonen hinweg zusammengearbeitet wird – so allgemein begründen die Befürworter einer Lockerung des Arbeitszeitgesetzes ihre Forderungen. „Völlig unbeachtet“ bleibt Seifert zufolge dabei, wie sich die gewünschten Änderungen „auf den Gesundheitsschutz, die Arbeitsbedingungen, auf das Arbeitsverhalten der Beschäftigten sowie die gleichberechtigte Wahrnehmung der beruflichen Chancen von Frauen und Männern auswirken könnten“. Zudem werde lediglich von „einzelwirtschaftlichen Kalkülen“ ausgegangen. Gesamtwirtschaftliche Kosten durch erhöhte gesundheitliche Belastungen und in der Folge steigende Sozialkosten „im Bereich der Gesundheitsversorgung, aber auch der Rente“ würden übersehen. Höhere Krankenstände, mehr Fälle von Erwerbsminderung und Frühverrentung – das könne „nicht im Interesse der Unternehmen sein, die sich einem schrumpfenden Arbeits- und Fachkräftereservoir gegenübersehen“, warnt Seifert.

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In der arbeitswissenschaftlichen Forschung ist die Bedeutung von Arbeitszeitgrenzen gut belegt. „Gehen die Arbeitszeiten über acht Stunden hinaus, erhöhen sich die Risiken gesundheitlicher Beeinträchtigungen, von Fehlhandlungen und Unfallhäufigkeit nicht linear, sondern eher exponentiell“, schreibt Seifert. Kommen Faktoren wie Nachtarbeit oder Wechselschicht hinzu, steigen die Risiken weiter. Was laut Seifert in der Arbeitszeitdebatte außerdem bedacht werden muss: Belastend ist nicht nur die vertraglich vereinbarte Zeit. Arbeitswege und Pausen eingerechnet, kommen schon heute viele Beschäftigte auf zwölf Stunden oder mehr, die im Zeichen der Erwerbsarbeit stehen und für soziale Verpflichtungen und Erholung nicht mehr zur Verfügung stehen. Etwa, wenn sie in Betrieben arbeiten, die sich bestehende Ausnahmeregelungen zu Nutze machen, und zumindest vorübergehend zehn Stunden – oder in Sonderfällen sogar mehr – am Tag arbeiten.

Angesichts der bestehenden Möglichkeiten sieht Seifert keinerlei Notwendigkeit für eine weitere Entgrenzung. Das Arbeitszeitgesetz lasse bei Vollzeitbeschäftigten bereits heute mehrere Hundert Stunden Mehrarbeit pro Jahr zu. Betriebliche Personalpolitik kann „die Dauer der Arbeitszeit insgesamt in einer enormen Schwankungsbreite je nach Nachfragesituation auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten variieren“, so Seifert. Zusammen mit anderen Instrumenten wie versetzten Arbeitszeiten, Kombinationen aus Teil- und Vollzeit, Arbeitszeitkonten sowie der Möglichkeit von Kurzarbeit verfügten die Betriebe heute über „einen vor wenigen Jahrzehnten kaum vorstellbaren Grad“ an Flexibilität.

Welche fatalen Auswirkungen eine Aufweichung der Arbeitszeitgrenzen hätte, lässt sich laut Seifert in den Wirtschaftsbereichen ablesen, in denen die Personalsituation extrem angespannt ist, beispielsweise in der Alten- und Krankenpflege. Hier kämen durch oft lange und ungünstig liegende Arbeitszeiten bereits jetzt zwei wesentliche Belastungsfaktoren zusammen. Mit im Schnitt 37 Krankheitstagen pro Jahr liegen die Pflegebeschäftigten um mehr als zwei Wochen über dem Durchschnitt. Bei den Fehltagen aufgrund psychischer Erkrankungen belegt die Pflege den ersten Platz. Nur 22 Prozent der hier Beschäftigten glauben, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Käme es zu noch längeren täglichen Arbeitszeiten, wäre die Qualität der Patientenversorgung in Gefahr. Fehler, im schlimmsten Fall bedrohliche, dürften zunehmen. Und langfristig würde sich die Mangellage obendrein verschärfen. Denn „Beschäftigte werden aus Bereichen mit gesundheitlich stark belastenden und die Teilhabe am sozialen Leben einschränkenden Tätigkeiten in solche mit angenehmeren Bedingungen abwandern“, erwartet der Forscher. Insofern seien die geforderten Änderungen des Arbeitszeitrechts „dysfunktional“.

Auch für die Gleichstellung der Geschlechter erwartet der Arbeitsmarktexperte Seifert negative Folgen. Längere Arbeitszeiten würden die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiter erschweren, was wiederum eine traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern begünstige. Konkret: Bei längeren Arbeitszeiten könnten Männer ihren Anteil an der Sorgearbeit reduzieren und Frauen hätten es noch schwerer, aus der Teilzeitfalle auszubrechen.

Dies kollidiere mit der Fachkräftestrategie der Bundesregierung, die die Frauenerwerbstätigkeit ausweiten will, mahnt der Forscher.

Inwiefern die geforderte Reform zum Vorteil der Beschäftigten sein könne, wie es in einem Antrag der CDU-CSU-Bundestagsfraktion heißt, ist Seifert zufolge nicht nachvollziehbar. Es sei zutreffend, dass Beschäftigte mehr zeitliche Flexibilität wünschen, aber selbstbestimmt und nicht nach betrieblichen Vorgaben. Geht man von einer mittel- bis langfristigen Verknappung des Arbeitsangebots aus, wird die Qualität der Arbeitsbedingungen – und damit die Arbeitszeit – zu einem wichtigen Faktor im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte. Der Nachteil langer Arbeitszeiten könnte dann nur durch höhere Löhne wettgemacht werden. 

Die Debatte um die Reform des Arbeitszeitgesetzes biete immerhin „eine gute Gelegenheit, die gegebenen Arbeitszeiten auf den Prüfstand zu stellen“, so Seifert. Aktuell spreche vieles „für belastungsärmere und zugleich familienfreundlichere Arbeitszeiten“. Alters- und alternsgerechtes Arbeiten seien zudem wichtige Themen, da bald alle Beschäftigten bis zum 67. Geburtstag erwerbstätig sein sollen – und diejenigen, die können und wollen, vielleicht auch darüber hinaus. Das erfordert gesundheitsfördernde Arbeitszeitmodelle, die etwa Wahlmöglichkeiten für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit schaffen.

Ein Instrument zur Vermeidung von Überlastungen ist die Erfassung der Arbeitszeit, die mittlerweile für fast 80 Prozent der Beschäftigten in Deutschland zur Alltagsroutine gehört. Studien zufolge führt die Zeiterfassung zu einer wirksamen Begrenzung der Arbeitszeit. Insofern wäre auch der von Befürwortern längerer zulässiger Arbeitszeiten geforderte Verzicht auf eine Pflicht zur taggenauen Zeiterfassung kontraproduktiv.

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