Quelle: HBS
Böckler ImpulsArbeitszeit: Kürzere Arbeitszeit mit Tarif
Tarifverträge sichern höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten. Das zeigt eine Auswertung des WSI.
Die Arbeitsbedingungen sind in tarifgebundenen Unternehmen durchweg besser als in Unternehmen ohne Tarif. So arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben im bundesweiten Schnitt wöchentlich eine knappe Stunde länger und verdienen gleichzeitig deutlich weniger als die Kollegen in Betrieben mit Tarifbindung. Das geht aus einer Analyse der WSI-Forscher Malte Lübker und Thorsten Schulten hervor. Sie basiert auf dem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Im Jahr 2019 konnten demnach nur noch 52 Prozent der Beschäftigten in Deutschland auf einen Tarifvertrag zählen, im Jahr 2018, dem aktuellsten, für das auch differenzierte Länder-Daten vorliegen, waren es 54 Prozent. Im Vergleich der Bundesländer liegen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen mit 60 Prozent vorn, Schlusslicht ist Sachsen mit nur 40 Prozent.
Gemeinsam ist allen Bundesländern, dass die Arbeitsbedingungen in wesentlichen Punkten wie Arbeitszeit und Entgelt in tariflosen Betrieben deutlich schlechter sind. Teilweise lassen sich die Unterschiede damit erklären, dass tarifgebundene Betriebe im Schnitt größer und in Branchen mit tendenziell höheren Löhnen tätig sind. Doch auch um diese Effekte bereinigt bleibt die Differenz eklatant: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten bundesweit im Schnitt wöchentlich 53 Minuten länger und verdienen elf Prozent weniger als Beschäftigte in Betrieben mit Tarifbindung, die hinsichtlich der Größe, des Wirtschaftszweigs, der Qualifikation der Beschäftigten und des Standes ihrer technischen Anlagen identisch sind.
Dabei gibt es deutliche regionale Unterschiede: Längere Arbeitszeiten ohne Tarif sind in den westdeutschen Bundesländern besonders ausgeprägt, und zwar auch dann, wenn man strukturelle Effekte herausrechnet. In Baden-Württemberg arbeiten Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Unternehmen jede Woche 72 Minuten mehr, in Bremen sind es 64 Minuten. Über das Jahr gesehen entspricht dies gut einer zusätzlichen Arbeitswoche – und dabei ist noch nicht berücksichtigt, dass Beschäftigte ohne Tarifvertrag häufig auch weniger Urlaubstage haben. Beim Entgelt zeigen sich die größten Nachteile in den neuen Bundesländern: In Brandenburg verdienen Beschäftigte in tariflosen Betrieben monatlich 17,7 Prozent weniger als Arbeitnehmer in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung, in Sachsen-Anhalt beträgt der Rückstand sogar 18,3 Prozent. Um auf ein volles Jahresgehalt ihrer Kollegen mit Tarifvertrag zu kommen, müssen Beschäftigte in tariflosen Betrieben dort also bis in den März des Folgejahres hinein arbeiten.
Tarifverträge müssen erkämpft werden
Die geringe Tarifbindung in Ostdeutschland ist eine wesentliche Erklärung dafür, dass die Löhne im Osten noch immer niedriger als im Westen sind. Zudem unterbieten dort die Tariflosen die Konditionen der Tarifverträge besonders deutlich. „Das empfinden viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verständlicherweise als ungerecht“, so WSI-Experte Lübker. „Tarifverträge schaffen mehr Gerechtigkeit, müssen aber oft hart erkämpft werden.“ Ermutigend seien deshalb Beispiele von ostdeutschen Betrieben, in denen Beschäftigte sich organisiert und über Tarifverträge bessere Konditionen durchgesetzt haben. Auch in den ostdeutschen Staatskanzleien habe sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass Niedriglöhne im Wettbewerb um Fachkräfte kein Standortvorteil sind.
Mit Tarifverträgen seien in der Bundesrepublik sukzessive kürzere Wochenarbeitszeiten durchgesetzt, Lohnerhöhungen festgeschrieben oder Wahlmöglichkeiten zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit eingeführt worden, schreiben Lübker und Schulten. Vor diesem Hintergrund sei es „eine bedrohliche Entwicklung“, dass die Tarifbindung in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgenommen hat – zur Jahrtausendwende hatten noch 68 Prozent der Beschäftigten einen Tarifvertrag. Ein Grund für diese Entwicklung war einerseits der wirtschaftliche Strukturwandel: In industriellen Großbetrieben sind Arbeitsplätze verloren gegangen, während in kleinteiligeren Bereichen neue entstanden sind. Dies mache es für Gewerkschaften heute schwieriger, Mitglieder zu organisieren, so die Experten. Doch auch dort, wo es Gewerkschaften gelingt, durch erfolgreiche Mitgliedergewinnung in tariflosen Betrieben Fuß zu fassen, stößt die Durchsetzung von Tarifverträgen zum Teil auf heftigen Widerstand der Arbeitgeber. Zusätzlich trägt zur Erosion bei, dass sich auch Arbeitgeber aus Branchen, in denen Tarifverträge traditionell verwurzelt sind, einer tariflichen Bezahlung entziehen. Durch die Einführung von sogenannten OT-Mitgliedschaften, „ohne Tarifbindung“, haben einige Arbeitgeberverbände diese Entwicklung vorangetrieben.
Bundesregierung sollte Tarifautonomie stärken
„Damit Tarifautonomie funktionieren kann, braucht es neben starken Gewerkschaften handlungsfähige Arbeitgeberverbände, die für ihre jeweilige Branche Standards setzen wollen“, erklären die Wissenschaftler. Gleichzeitig sei auch die Regierung gefordert: Die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen könne die Reichweite von bereits geschlossenen Tarifverträgen erhöhen. Zudem verfügten Bund, Länder und Gemeinden mit der öffentlichen Auftragsvergabe und der Wirtschaftsförderung über einen zusätzlichen Hebel – sie könnten Tariftreue zur Voraussetzung für die Auftragsvergabe oder Förderung machen. Wegweisend seien hier das Landesvergabegesetz in Berlin sowie die Richtlinien zur Wirtschaftsförderung in Mecklenburg-Vorpommern, die sehr weitgehende Tariftreuevorgaben enthielten.
Malte Lübker, Thorsten Schulten: Tarifbindung in den Bundesländern: Entwicklungslinien und Auswirkungen auf die Beschäftigten (pdf), Elemente qualitativer Tarifpolitik Nr. 87, September 2020
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Um für mehr Tarifbindung zu sorgen, braucht es gesetzliche Anreize. Dazu geeignet wären unter anderem Tariföffnungsklauseln, die nur tarifgebundene Unternehmen nutzen können, zeigt ein Rechtsgutachten des HSI:
Thorsten Kingreen: Exklusive Tariföffnungsklauseln: Einfach-rechtliche Ausgestaltung und verfassungsrechtliche Zulässigkeit, HSI-Schriftenreihe Band 35, September 2020