Quelle: HBS
Böckler ImpulsGesundheit: Krankenversicherungen: Wege zu einem fairen Wettbewerb
Eine einheitliche Wettbewerbsordnung für private wie gesetzliche Krankenkassen würde die Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland beenden.
In Europa steht Deutschland mit seinem Nebeneinander von privater und gesetzlicher Krankenvollversicherung allein da, nachdem die Niederlande 2006 beide Krankenversicherungssysteme integriert haben. Unter den entwickelten Industrieländern sind die USA das einzige andere Land, in dem zwei vollkommen unterschiedliche Versicherungssysteme für die medizinische Grundversorgung parallel bestehen. Die Gesundheitsexperten Stefan Greß, Simone Leiber und Maral Manouguian haben die Schwächen des deutschen Modells herausgearbeitet und Reformvorschläge entwickelt.
Anreize zum Ausstieg aus dem Solidarsystem. Die für Versicherte mit hohem Einkommen, Selbstständige und Beamte bestehende Möglichkeit, aus der gesetzlichen (GKV) in die private Versicherung (PKV) zu wechseln, führt zu einer "negativen Auslese", schreiben die Wissenschaftler. Insbesondere gesunde junge Singles mit hohen Einkommen entziehen sich dem gesetzlichen Solidarsystem. Personen mit mittleren oder unteren Einkommen, chronisch Kranke und Versicherte mit vielen Kindern bleiben in der GKV.
Zwei-Klassen-Medizin. PKV-Versicherte genießen oft eine Vorzugsbehandlung: Sie kommen beim Arzt schneller dran und werden ausführlicher beraten, wie Studien zeigen. Mit Blick auf diese Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsleistungen warnen die Experten: Es bestehe "die massive Gefahr von Unter- und Fehlversorgung, durch die vermeidbare gesundheitliche Schäden entstehen. Gleichzeitig besteht die Gefahr der Überversorgung von privat versicherten Patienten". Die Ungleichbehandlung sei eine Folge der unterschiedlichen Abrechnungssysteme für ärztliche Leistungen: Mediziner verdienen an Privatpatienten, für die sie alle Einzelleistungen ohne Mengenbegrenzung abrechnen können, besser als an Kassenpatienten - ein Grund für das starke Ausgabenwachstum der PKV. Die Behandlung von Kassenpatienten wird mit einem Mix aus Fallpauschalen und gedeckelten Einzelvergütungen entlohnt.
Ein System für fairen Wettbewerb. Die technisch einfachste Möglichkeit, die Fehler des aktuellen Systems zu beheben, bestünde den Wissenschaftlern zufolge darin, alle Bürger zur Mitgliedschaft in der GKV zu verpflichten und privaten Anbietern nur das Feld der Zusatzversicherungen zu überlassen. Dies sei jedoch politisch wenig realistisch. Und es würde Unternehmen hart treffen, die ausschließlich diese Versicherungssparte betreiben und in der Vergangenheit wenig in den Markt für Zusatzversicherungen investiert haben.
Für leichter umsetzbar halten sie ein Modell, in dem für alle Krankenversicherungen die gleichen Regeln gelten. So gäbe es keine systematischen Wettbewerbsvor- oder -nachteile für einen bestimmten Versicherungstyp. "Ein solches Modell wäre auch mit dem neu eingeführten Gesundheitsfonds kompatibel", schreiben die Gesundheitsexperten. Der Staat würde einen Mindestkatalog der von der Standardversicherung abzudeckenden medizinischen Leistungen vorgeben. Den Versicherungsträgern stünde es frei, ihren Mitgliedern weitere, extra zu bezahlende Leistungen anzubieten. Die Existenzberechtigung privater Krankenversicherer würde in diesem Modell nicht infrage gestellt, betonen die Wissenschaftler. Auch die Tatsache, dass private Kassen nach dem Kapitaldeckungs- und gesetzliche nach dem Umlageverfahren arbeiten, stehe den Vorschlägen nicht im Weg, wie Gesundheitsökonomen nachgewiesen hätten. Dies sei kein grundsätzliches Problem, sondern lediglich eine technische Frage. Um dieses Modell zu verwirklichen, wären einige grundlegende Korrekturen am Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungen nötig:
- Privat Versicherte würden künftig einkommensabhängige Beiträge an den Gesundheitsfonds leisten.
- Auch die privaten Versicherungen bekämen Zahlungen für ihre Mitglieder aus dem Gesundheitsfonds.
- Die privaten Kassen würden gemeinsam mit den gesetzlichen am Risikostrukturausgleich teilnehmen.
- Das Abrechnungssystem für ärztliche Leistungen müsste vereinheitlicht werden - nach Möglichkeit aufkommensneutral.
Als erste Schritte, bis eine einheitliche Wettbewerbsordnung erreicht ist, sollten zumindest die beiden letzten Punkte verwirklicht werden, so die Wissenschaftler.
Stefan Greß, Simone Leiber, Maral Manouguian: Integration von privater und gesetzlicher Krankenversicherung vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen, in: WSI-Mitteilungen 7/2009