Quelle: HBS
Böckler ImpulsFamilienförderung: Konzepte für eine gerechte Förderung aller Kinder
Etwa jedes fünfte Kind hierzulande gilt als arm. Das liegt auch am sozial unausgewogenen, in sich unstimmigen System der Familienförderung. Wissenschaftler haben die Verteilungswirkungen und Kosten mehrerer Alternativmodelle untersucht.
Der Familienlastenausgleich besteht aus verschiedenen Teilsystemen: Eltern, die schon länger ohne Job sind, bekommen für ihre Kinder Sozialgeld nach den Hartz-IV-Regeln. Eltern mit mittleren Einkommen beziehen Kindergeld. Wer sehr gut verdient, profitiert vom steuerlichen Kinderfreibetrag anstelle des Kindergeldes; für den Nachwuchs dieser Eltern fällt die staatliche Förderung am höchsten aus. Dass der Staat etwa Kindern von Sozialleistungsempfängern weniger zugesteht als Kindern gut betuchter Eltern, beruht auf Unstimmigkeiten zwischen den unterschiedlichen Einzelsystemen. So setzt das Sozialrecht für Kinder ein deutlich niedrigeres Existenzminimum an als das Steuerrecht - ein verfassungsrechtlich problematischer Zustand.
Die Verteilungsforscher Irene Becker und Richard Hauser von der Universität Frankfurt haben drei Reformvorschläge untersucht. Diese könnten die Kinderarmut reduzieren und die Benachteiligung von Familien mit geringen Einkommen beenden oder zumindest mildern. Ihr Ergebnis: Auf längere Sicht ist es möglich, den Familienlastenausgleich so umzustrukturieren, dass die Ungleichbehandlung und der größte Teil der Kinderarmut verschwinden. Dazu wären Steuermittel in der Größenordnung von jährlich 30 Milliarden Euro nötig. Kurzfristig ließe sich die Situation vieler Familien mit niedrigen Einkommen jedoch auch mit weniger Steuergeld erheblich verbessern.
Die am weitesten gehende Variante ist die Einführung einer Kindergrundsicherung: Alle Eltern, ob Hartz-IV-Bezieher oder Spitzenverdiener, bekämen für jedes Kind monatlich einen Betrag, der deutlich über dem heutigen Kindergeld liegt - allerdings nicht steuerfrei. Arme Eltern erhielten so die maximale Förderung, mit steigendem Einkommen würde der Staat sich aber einen immer größeren Teil des Geldes per Einkommensteuer zurückholen. Hartz-IV-Leistungen für Kinder könnten entfallen.
Ein anderes Modell besteht in einer Erhöhung des bestehenden Kindergeldes, die nicht auf Hartz-IV-Zahlungen angerechnet würde, und einer Streichung der steuerlichen Kinderfreibeträge.
Der dritte und am leichtesten umzusetzende Ansatz sieht vor, den Kinderzuschlag auszubauen. Dies ist eine Leistung für Eltern, die zwar genug verdienen, um ihre eigene Existenz zu sichern, aber wegen ihrer Kinder in den Hartz-IV-Bezug zu rutschen drohen. Der Kinderzuschlag ist heute auf eine recht kleine Gruppe zugeschnitten und wird von vielen berechtigten Eltern gar nicht in Anspruch genommen - vermutlich meist aus Unkenntnis.
Mithilfe des sozio-oekonomischen Panels, eines für die bundesdeutschen Haushalte repräsentativen Datensatzes, haben die Wissenschaftler verschiedene Varianten auf ihre Verteilungswirkungen und die Gesamtkosten für den Fiskus untersucht.
Unterschiedliche Reformansätze ...
Eine Kindergrundsicherung, wie beispielsweise von der Arbeiterwohlfahrt und vom Kinderschutzbund gefordert, könnte in einer monatlichen Zahlung von 502 Euro pro Kind bestehen. Die Zahl ergibt sich aus dem so genannten sächlichen Existenzminimum von 322 Euro zuzüglich einer Pauschale von 180 Euro für Betreuung, Erziehung und Ausbildung. Diese Werte gelten heute im Steuerrecht, stehen allerdings unter dem Vorbehalt der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neuberechnung des Existenzminimums. Mit Einführung der Kindergrundsicherung würden steuerliche Kinderfreibeträge, das bisherige Kindergeld, Sozialgeld und weitere Sozialleistungen für Kinder abgeschafft oder vermindert. Die Kindergrundsicherung ist damit "der weitestgehende Vorschlag", so Becker und Hauser. Mit ihm würden "Inkonsistenzen der bestehenden Regelungen abgebaut" sowie verdeckte Armut beseitigt - denn das Geld würde automatisch ausgezahlt, so dass niemand leer ausginge, weil er keinen besonderen Antrag gestellt hat.
Die Berechnungen der Wissenschaftler zeigen: Die Kindergrundsicherung ist das effektivste Mittel zur Armutsbekämpfung, aber auch das teuerste. Deutlich profitieren würden Familien mit niedrigen und mittleren Einkommen. Die Armutsquote der Unter-16-Jährigen würde um vier Fünftel auf 3,3 Prozent zurückgehen. Die Mehrkosten gegenüber dem heutigen System liegen bei etwa 33 Milliarden Euro pro Jahr, das entspricht etwa 17 Prozent des Einkommensteueraufkommens. Die Finanzierung über einen Zuschlag auf die Einkommensteuer, einen "Familien-Soli", haben Hauser und Becker allerdings nur als fiktive Belastungsverteilung in die Modellrechnungen integriert. Eine realistische Art der Gegenfinanzierung wäre demgegenüber ihrer Ansicht nach eine Kombination aus verändertem Einkommensteuertarif, reformiertem Ehegattensplitting, höherer Erbschaft- und wieder eingesetzter Vermögensteuer.
Alternativ könnte die Kindergrundsicherung bei 454 Euro liegen. Der Betrag ist gerade so angesetzt, dass die geltenden steuerrechtlichen Vorgaben eingehalten und Spitzenverdiener im Vergleich zur Freibetragsregelung nicht schlechter gestellt würden. Die Kinderarmut würde um drei Viertel auf 4,3 Prozent sinken, die Forscher beziffern die Mehrkosten mit ungefähr 25 Milliarden Euro.
Eine Kindergelderhöhung von heute 184 Euro für das erste Kind auf 322 Euro, das sächliche Existenzminimum, wäre eine andere Möglichkeit, die Situation von Familien wesentlich zu verbessern. Mit etwas geringeren Kosten verbunden wäre eine Erhöhung auf 238 Euro. Dieser Betrag entspricht der maximalen Steuerersparnis, die Besserverdiener heute durch den Kinderfreibetrag erzielen können. Das Kindergeld müsste mindestens auf diesen Wert steigen, wenn die Bevorzugung von Besserverdienern beendet werden soll. In beiden Varianten würde die Kindergelderhöhung nicht auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet.
Nach Becker und Hauser würde die große Kindergelderhöhung auf 322 Euro die Kinderarmut um zwei Drittel auf 5,4 Prozent, die kleine Kindergelderhöhung um gut ein Viertel auf 11,8 Prozent verringern. Die Mehrkosten beliefen sich auf etwa 28 beziehungsweise rund 9 Milliarden Euro.
Ein reformierter Kinderzuschlag, wie er etwa vom Deutschen Gewerkschaftsbund vorgeschlagen wird, sei "ein pragmatisches Konzept für Verbesserungen bei gegebenen institutionellen Strukturen", schreiben die Forscher, auch wenn er nicht grundsätzlich die Ungleichbehandlung der Kinder von Eltern mit unterschiedlichem Erwerbsstatus beende. Die monatlichen Beträge von bislang 140 Euro könnten je nach Alter des Kindes auf bis zu 272 Euro steigen. Paare mit Kindern, die wenig, aber mehr als 800 Euro im Monat verdienen, sollen künftig zwischen Kinderzuschlag und Hartz-IV-Leistungen wählen können: die Voraussetzung, dass der Kinderzuschlag zusammen mit Wohngeld das Einkommen über die Hartz-IV-Grenze heben muss, soll entfallen. Für Alleinerziehende würde die Einkommensuntergrenze bei 500 Euro liegen. Zudem könnte der Kinderzuschlag mit steigendem Einkommen langsamer abgeschmolzen werden als heute.
Vorausgesetzt, dass infolge einer verbesserten Informationspolitik künftig etwa 75 Prozent der anspruchsberechtigten Eltern den reformierten Kinderzuschlag beantragen, würde Kinderarmut um ein Viertel auf 12,4 Prozent zurückgehen, ergibt die Modellrechnung der Wissenschaftler. Die anfallenden Kosten wären mit 4,4 Milliarden Euro pro Jahr vergleichsweise gering.
... für die kurze und die langfristige Perspektive
Die Autoren sehen die untersuchten Reformvorschläge für den Familienlastenausgleich nicht als Konkurrenzmodelle. Ein erweiterter Kinderzuschlag könne kurzfristig mit überschaubarem finanziellen Aufwand die Situation von gut zwei Millionen Kindern verbessern. Deutliche Kindergelderhöhungen oder die Einführung einer Kindergrundsicherung seien "eher mittelfristig umsetzbare Programme". Die Einführung einer Kindergrundsicherung würde zwar zahlreiche Anpassungen im Sozial- und Steuerrecht notwendig machen - eine Aufgabe für mindestens eine Legislaturperiode. Gegenüber einer großen Kindergelderhöhung sei sie aber das stimmigere Konzept, so Becker und Hauser. Denn mit annähernd gleichem Transfervolumen werde eine stärkere, sich mit steigender steuerlicher Leistungsfähigkeit kontinuierlich entwickelnde Einkommensumverteilung "von oben nach unten" erreicht.
Eine weitere wirtschaftspolitische Maßnahme halten die Wissenschaftler zudem für empfehlenswert: Höhere Transferzahlungen könnten eine weitere Ausbreitung des Niedriglohnsektors begünstigen, weil Arbeitgeber Lohnforderungen "mit Verweis auf ergänzende staatliche Leistungen" zurückweisen. Deshalb sollte als flankierende Maßnahme ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden.
Irene Becker, Richard Hauser: Kindergrundsicherung, Kindergeld und Kinderzuschlag: Eine vergleichende Analyse aktueller Reformvorschläge (pdf), Expertise im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, August 2010.
Zum Projekt der Forschungsförderung "Vom Kindergeld zu einer Grundsicherung für Kinder"