Quelle: HBS
Böckler ImpulsCorporate Governance: Keine Flucht aus der Mitbestimmung
Die Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft haben in Deutschland mehr Unternehmen gewählt als anderswo in Europa. Doch nur eine Minderheit von ihnen war vorher mitbestimmt oder eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht.
Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) breitet sich aus - zwar stetig, aber nicht besonders schnell. Seit fünf Jahren können sich Unternehmen in Deutschland diese Rechtsform geben, die ihnen den Vorteil bietet, EU-weit als rechtliche Einheit aufzutreten. Bis Ende August 2009 haben das 64 operativ tätige Firmen getan, weitere 15 haben es angekündigt, zeigt eine aktuelle Auswertung von Roland Köstler. In den übrigen EU-Ländern hat der Fachmann für Unternehmensrecht in der Hans-Böckler-Stiftung insgesamt 35 operativ tätige SEs gezählt. Operativ tätig, das heißt: Die Unternehmen machen wirklich Geschäfte und beschäftigen Mitarbeiter, sie sind nicht nur vorgegründete rechtliche Hüllen zum Weiterverkauf.
Interessant ist der Blick auf die Rechtsform der Ausgangsunternehmen: Lediglich 27 der 64 aktiven deutschen Euro-Gesellschaften waren zuvor Aktiengesellschaften, nur 15 sind börsennotiert. "Von einer 'Flucht aus der AG', wie sie von manchen Beratern und Rechtswissenschaftlern beschworen wird, kann da sicher keine Rede sein", sagt der Jurist Köstler.
Die These, dass deutsche Konzerne die europäische Rechtsform wählten, um die Mitbestimmung zu beschränken, lasse sich mit den aktuellen Zahlen nicht belegen. Köstlers Auswertung zeigt: Nur neun Unternehmen, die mittlerweile als SE firmieren und operativ tätig sind, beschäftigten zum Zeitpunkt des Wechsels in Deutschland mehr als 2.000 Mitarbeiter. Acht davon waren nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 im Aufsichtsrat mitbestimmt. Zum Vergleich: Ende 2008 gab es insgesamt 689 Unternehmen, die diesem Gesetz unterlagen. Weitere 21 Neu-SEs hatten zum Zeitpunkt der Umwandlung zwischen 500 und 2.000 Beschäftigte - in solchen Unternehmen stellen die Arbeitnehmer ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder. Die größte Gruppe unter den operativen deutschen SEs bilden 34 Firmen, die auch in ihrer vorherigen Rechtsform keine Beteiligung der Arbeitnehmer hatten, weil sie in Deutschland weniger als 500 Menschen beschäftigten. Lediglich bei einigen kleineren Unternehmen gibt es Indizien dafür, dass der Wechsel auch etwas mit der Mitbestimmung zu tun hatte: Die Rechtsform wurde geändert, als sich die Zahl der Beschäftigten einem der Schwellenwerte näherte. Weil bei der SE über die Ausgestaltung der Mitbestimmung verhandelt werden kann, lässt sich in solchen Situationen die Arbeitnehmerbeteiligung auf niedrigerem Niveau "einfrieren".
Bei den acht großen mitbestimmten SEs hat sich an der paritätischen Sitzverteilung im Aufsichtsrat hingegen nichts geändert. Vier von ihnen haben ihr Kontrollgremium verkleinert, zwei davon deutlich, zeigt Köstlers Analyse. Ein genereller Trend zu kleineren Aufsichtsräten in deutschen Unternehmen lasse sich aus den SE-Zahlen aber nicht ablesen, betont der Experte. Denn es gibt auch Daten, die in eine andere Richtung weisen: So hat Bernd Frick, Wirtschaftsprofessor an der Uni Paderborn, ermittelt, dass rund ein Viertel der in den deutschen Aktienindizes DAX, MDAX und SDAX notierten Unternehmen zwischen 1998 und 2007 einen größeren Aufsichtsrat hatten, als gesetzlich vorgeschrieben ist. Zu ganz ähnlichen Zahlen kam der Marburger Professor Elmar Gerum, als er zum Stichtag 1. Januar 2004 die Aufsichtsratsgrößen deutscher Aktiengesellschaften untersuchte. "Die Praxis hält ganz offenkundig größere Aufsichtsratsgremien für vorteilhaft beziehungsweise effizient", schreibt der Wissenschaftler.
Die zunehmende Zahl von Europäischen Aktiengesellschaften belegt nach Köstlers Analyse, dass die SE funktioniert - als grenzüberschreitende Ergänzung zu den nationalen Gesellschaftsformen: "Die SE hat sich etabliert, aber sie ist keine Verdrängungskonkurrenz, beispielsweise gegenüber der AG", sagt der Experte. Es sei daher nicht nachvollziehbar, wenn einige Rechtswissenschaftler vorschlügen, Elemente der SE auf deutsche Aktiengesellschaften zu übertragen und die Ausgestaltung der Mitbestimmung zur Verhandlungssache zu machen. "Das ergibt keinen Sinn, schon gar nicht nach den Erfahrungen der letzten Monate", sagt Köstler. "Der Bundespräsident und Spitzenmanager wie Siemens-Chef Löscher nennen die Mitbestimmung einen Standortvorteil, weil sie in der Krise schnelle, breit akzeptierte Entscheidungen erlaubt. Das System bewährt sich einmal mehr. Warum sollte man es ändern?"
Roland Köstler: Das trojanische Pferd der verhandelten Mitbestimmung. In: Der Aufsichtsrat 10/2009; Statistik zur Struktur der SE
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