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HBS Böckler Impuls

Arbeitsmarkt: Internationale Forschung gibt Mindestlohn Rückendeckung

Ausgabe 03/2010

Weder die ökonomische Theorie noch Erfahrungswerte sprechen grundsätzlich gegen einen Mindestlohn. Ein Überblick über den internationalen Forschungsstand macht deutlich: Eine gesetzliche Lohnuntergrenze muss keine Arbeitsplätze kosten, sondern kann sogar neue bringen.

Einen eindeutigen Zusammenhang von Mindestlöhnen und Beschäftigung gibt es nicht. Wie sich Lohnuntergrenzen auf dem Arbeitsmarkt auswirken, entscheidet sich nach der jeweiligen Marktsituation, den Präferenzen von Arbeitgebern und Beschäftigten sowie der Höhe des Mindestlohns. "Offensichtlich gibt es Spielräume für die Festsetzung von Mindestlöhnen, so dass negative Beschäftigungseffekte erst bei Überschreitung eines bestimmten Niveaus erfolgen", schreiben Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf und Thorsten Kalina.

Die Wissenschaftler vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) haben einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zusammengestellt.* Darin berichten sie von zahlreichen empirischen Studien aus den USA und Großbritannien, die Jobzuwächse in Folge von Mindestlohn-Erhöhungen statt der erwarteten Verluste beobachtet haben. Außerdem schildern die Forscher mögliche theoretische Erklärungsansätze für Jobgewinne und -verluste. Nach den bisherigen Erfahrungen, so ihre Bilanz, können gesetzliche Lohnuntergrenzen Einkommensarmut verringern, Arbeitsplätze aufwerten, die Betriebsbindung von gering Qualifizierten steigern - und das, ohne die Zahl der Beschäftigten zu reduzieren.

Theoretische Erklärungen. Die ökonomische Theorie liefert mehrere Erklärungsansätze für Beschäftigungseffekte von Mindestlöhnen. Die IAQ-Wissenschaftler nennen die vier wichtigsten:

Die Effizienzlohntheorie betrachtet den Zusammenhang von Produktivität und Arbeitskosten. Der Grundgedanke lautet: Höhere Löhne veranlassen das Unternehmen, seine Effizienz zu steigern. Dadurch verbessert sich das Betriebsergebnis, es ist genug Geld in den Kassen, um die vom Mindestlohn ausgehende Entgelterhöhung zu finanzieren.

Die Wachstumstheorie sieht in Mindestlöhnen vor allem einen Anreiz für die Unternehmen, ihre gering qualifizierten Beschäftigten weiterzubilden. Wenn das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte steigt, dann vergrößert sich auch das Wachstumspotenzial des Unternehmens und der Gesamtwirtschaft. Beides kommt wieder der Beschäftigung zugute.

In der keynesianischen Theorie hängt die Beschäftigung von der Güternachfrage ab: Wenn die Unternehmen Gewinne erwarten, dann beschäftigen sie auch Arbeitskräfte. Höhere Löhne ermöglichen den Beschäftigten mehr Konsum, sie beleben die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen. Folglich kann eine gesetzliche Lohnuntergrenze helfen, Arbeitsplätze zu sichern.

Im Unterschied dazu geht die Neoklassik davon aus, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten. Das basiert auf der Annahme, dass jeder Beschäftigte nach seiner Produktivität vergütet wird. Ist der Mindestlohn höher als die Produktivität, fällt in diesem Modell der Job weg.

Etliche in den vergangenen Jahren in Deutschland veröffentlichte Studien hatten den Auftrag, mögliche Beschäftigungseinbußen durch einen Mindestlohn zu schätzen. Diese Arbeiten folgen fast immer der neoklassischen These, dass Lohn­untergrenzen Arbeitsplätze kosten. Die von den anderen Theorien beschriebenen Nachfrageeffekte und Effizienzgewinne berücksichtigen sie nicht. Die Wissenschaftler des IAQ kritisieren in ihrer Übersicht die engen Annahmen, die derartigen Berechnungen zugrunde liegen. Joachim Ragnitz und Marcel Thum vom ifo-Dresden beispielsweise erwarten für eine Lohnerhöhung von einem Prozent einen Beschäftigungsrückgang von 0,75 Prozent - ohne diese Annahme empirisch untermauern zu können. Die Autoren erkundeten den Zusammenhang von Mindestlohn und Beschäftigung nicht; stattdessen behaupten sie, ihn schon im voraus zu kennen. So ergibt sich kein Erkenntnisgewinn, stellt das IAQ-Team fest. Aufschluss über die Beschäftigungseffekte können darum letztlich nur Untersuchungen bereits eingeführter Mindestlöhne bieten.

Empirische Studien wurden vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien verfasst. Als klassisch gilt inzwischen eine Studie von David Card und Alan B. Krueger aus dem Jahr 1995. Die beiden Forscher beobachteten, wie sich an der Grenze zweier US-Bundesstaaten die Zahl der Jobs in Fast-Food-Restaurants veränderte, nachdem einer der beiden Staaten den Mindestlohn erhöht hatte. Es stellte sich heraus: Obwohl New Jersey im Untersuchungszeitraum die Lohnuntergrenze anhob und damit Arbeit verteuerte, stieg die Beschäftigung stärker als im benachbarten Pennsylvania. Der von der Neoklassik behauptete Automatismus blieb aus.

 "Ganz andere Faktoren bestimmen die Beschäftigungsentwicklung"

Zu einem ähnlichen Befund kamen Sylvia Allegretto, Arindrajit Dube und Michael Reich 2008. Die Forscher untersuchten ebenfalls die Effekte von einseitigen Mindest­lohnerhöhungen in Grenzregionen von US-Bundes­staaten. Das Augenmerk galt diesmal jedoch nicht einer Niedriglohnbranche, sondern der Erwerbsbeteiligung junger Menschen. Aber auch für die Arbeitsplätze von Teenagern zeigte sich in verschiedenen Untersuchungsregionen: Höhere Mindestlöhne in einem Staat hatten keine negative Wirkungen.

Nachdem Arindrajit Dube, William T. Lester und Michael Reich 2008 zu vergleichbaren Ergebnissen gelangten, folgerten sie, dass "ganz andere Faktoren die Beschäftigungsentwicklung bestimmen als die Mindestlöhne". Eine geringfügige Erhöhung der Lohnuntergrenze bewirke auf dem lokalen Arbeitsmarkt nur sehr wenig im Vergleich etwa zum Wandel der regionalen Wirtschaftsstruktur, zum Niedergang von Industrien oder dem Aufblühen des Tourismus.

Unternehmen reagieren auf Mindestlöhne und ihre Anhebungen nicht zwangsläufig mit Entlassungen, sondern passen ihre Arbeitsorganisation anderweitig an. Das beschreibt die so genannte Flughafenstudie von Michael Reich, Peter Hall und Ken Jacobs von 2003. Die Flughafenkommission von San Fransisco hatte 2001 ein Qualitätsprogramm beschlossen und unter anderem einen Mindestlohn von 11,25 Dollar festgelegt. Die Einstiegslöhne für einfache Tätigkeiten mussten dadurch um 33 Prozent angehoben werden. Es stellte sich heraus, dass ein Gutteil der Kosten durch die erheblich gesunkene Fluktuation eingespielt wurde: Anlernzeiten fielen weg, Fehlzeiten und Qualitätsmängel verringerten sich. Die Firmen veränderten ihre Arbeitskultur. Mindestlöhne können "die Geschäftsmodelle von Unternehmen nachhaltig verändern", resümierten die Forscher. Eine Studie zu den städtischen Mindestlöhnen von San Fransisco aus dem Jahr 2007 bestätigt dies. Vor allem in Fast-Food-Restaurants verbesserten sich nach einer Erhöhung der städtischen Lohnuntergrenze die Arbeitsbedingungen, es gab mehr Vollzeitkräfte, die Löhne stiegen - aber es wurden nicht mehr Betriebe geschlossen oder Menschen entlassen als in den Jahren zuvor.

Ebenfalls empirisch gut erforscht ist der britische ­Mindestlohn. Die von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissen­schaftlern besetzte Niedriglohn-Kommission hat mehrfach die Wirkungen des National Minimum Wage überpüfen lassen. Das IAQ fasst die Resultate der vorliegenden Studien zusammen: "Sie sind alle zu dem Ergebnis gekommen, dass der Mindestlohn zwar die Rentabilität leicht reduziert, aber keine negativen Beschäftigungswirkungen hat." Effizienzgewinne, Nachfrageeffekte und verbesserte Qualifikationen wogen für die Firmen schwerer als die erhöhten ­Arbeitskosten.

Mirko Draca, Stephen Machin und John van Reenen sehen darin "einen Beleg für monopsonistische Strukturen des Arbeitsmarktes". Die Unternehmen seien zuvor auf dem lokalen Arbeitsmarkt für einfache Tätigkeiten in einer sehr starken Position gegenüber den Arbeitskräften gewesen. Die Geringverdiener konnten nicht frei agieren, sondern waren auf das Einkommen angewiesen und darum bereit, auch für Löhne unterhalb ihrer Produktivität zu arbeiten. Das nutzten die Arbeitgeber aus, sie zahlten weniger als den Produktivitätslohn und sicherten sich dadurch eine Extrarendite. Das ging in Großbritannien so lange, bis schließlich der Staat einen gesetzlichen Mindestlohn einführte und damit für fairen Wettbewerb sorgte. 

  • Niedriglöhne haben sich ausgebreitet. Zur Grafik
  • Mehr Niedriglöhner, mehr Besserverdiener: die Mittelschicht schrumpft. Zur Grafik
  • Geringverdiener haben nicht nur reale Kaufkraftverluste, ihre Einkünfte sinken sogar nominal. Zur Grafik

Gerhard Bosch, Claudia Weinkopf, Thorsten Kalina: Mindestlöhne in Deutschland (pdf), Expertise im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, Dezember 2009.

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