Quelle: HBS
Böckler ImpulsStandort: Industrie: Kern der deutschen Wirtschaft
Das Verarbeitende Gewerbe spielt in Deutschland eine wichtigere Rolle als in anderen Industrienationen. Der Trend, aus Kostengründen die Produktion ins Ausland zu verlagern, schwächt sich inzwischen ab.
Mit einer Wertschöpfungsquote von etwa 22 Prozent bildet die Industrie weiterhin den eigentlichen Kern der deutschen Wirtschaft. Dabei entwickeln sich Industriebetriebe zunehmend vom reinen Warenhersteller zum kompletten Problemlöser ihrer Kunden, schreibt Steffen Kinkel. Der Professor an der Hochschule Karlsruhe erforscht seit Jahren die Position der deutschen Industrie in der Globalisierung und hat die aktuelle Wirtschaftsstruktur der Bundesrepublik eingehend untersucht. Die wichtigsten Daten und Trends:
Im internationalen Vergleich hat Deutschlands Verarbeitendes Gewerbe eine starke Position, so Kinkel. Wichtige Wettbewerber wie Frankreich, Großbritannien oder die USA haben mit einem Wertschöpfungsanteil zwischen 10,7 und 13,2 Prozent einen bedeutend kleineren Industriesektor. Im Unterschied zum Bruttoinlandsprodukt misst die Wertschöpfung die in einzelnen Wirtschaftsbereichen erbrachte Leistung nicht zu Marktpreisen, sondern zu den Preisen der Herstellung, da die Marktpreise oft Steuern und Subventionen enthalten.
Unternehmensnahe und wissensintensive Dienstleistungen entstehen oft deshalb, weil die Industrie sie nachfragt. Damit bedingt das Verarbeitende Gewerbe auch im tertiären Sektor einen erheblichen Anteil der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung. Der Autor schätzt diesen auf 23 Prozent. Zusammen mit dem direkt von der Industrie erzielten Anteil kommen also 45 Prozent Wertschöpfungsquote zusammen.
Vier traditionelle Hochtechnologiebranchen prägen die Wertschöpfungsstrukturen der deutschen Industrie: der Automobilbau und seine Zulieferer, der Maschinen- und Anlagenbau, die chemische Industrie und die Elektrotechnik. Auf sie entfallen rund 40 Prozent der Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe. Unternehmen der Spitzentechnologie, zum Beispiel Hersteller von Medizintechnik, machen lediglich 11 Prozent aus.
Fast 90 Prozent aller Exporte der deutschen Wirtschaft entfallen auf den Industriesektor. Insgesamt überstiegen die deutschen Ausfuhren im Jahr 2011 erstmals den Wert von einer Billion Euro. Trotz wachsender Anteile der Schwellenländer sind die europäischen Absatzmärkte für Deutschland nach wie vor wichtig: Rund 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU.
Forschung und Entwicklung treibt in der deutschen Wirtschaft hauptsächlich das Verarbeitende Gewerbe voran. Laut Stifterverband war die Industrie 2010 für 86 Prozent der Aufwendungen verantwortlich. Auch von den weiter gefassten Innovationsausgaben entfallen 71 Prozent auf diesen Sektor.
Innere Tertiarisierung heißt ein bedeutsamer Trend im Verarbeitenden Gewerbe: Dienstleistungen wie Kantinen, Fuhrparks und Sicherheitsdienste sind zwar an darauf spezialisierte Unternehmen ausgelagert worden. Zunehmend wichtig werden jedoch die so genannten produktbegleitenden Dienstleistungen, erläutert der Professor. Dazu zählt er Planung, Beratung und Projektierung im Vorfeld des Verkaufs eines Industrieprodukts sowie Montage, Inbetriebnahme und Schulung – und außerdem Wartung und Reparatur nach dem Verkauf.
Kinkel identifiziert hier eine Tendenz zum Zusammenschluss von traditionellen Industriegütern mit dazugehörigen Dienstleistungskomponenten – wobei das Endprodukt nicht mehr eindeutig dem sekundären oder tertiären Sektor zugeordnet werden kann. Aktuell liegt der Umsatzanteil, den Industriebetriebe mit produktbegleitenden Dienstleistungen erzielen, bei durchschnittlich 12,8 Prozent. Auch für die kommenden Jahre rechnet der Forscher mit einer weiteren Zunahme solch hybrider Problemlösungen in der Industrie.
Die Verlagerung der Produktion ins Ausland hingegen hat sich in den vergangenen Jahren verlangsamt. Im Jahr 2009 ist das Offshoring auf den niedrigsten Stand seit 15 Jahren gesunken, stellt Kinkel fest. Auf jeden dritten Betrieb, der künftig im Ausland produzieren wollte, kam bereits ein Rückverlagerer. Hauptgründe für die Rückkehr in die Bundesrepublik seien unter anderem Qualitäts- oder Flexibilitätsprobleme am ausländischen Standort.
Steffen Kinkel: Industrie in Deutschland: Kern wirtschaftlichen Wachstums und inländischer Wertschöpfung, in: B. P. Priddat, K.-W. West (Hrsg.): Die Modernität der Industrie, Metropolis-Verlag, Marburg 2012