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HBS Böckler Impuls

Gesellschaft: In den Köpfen hat die Mittelschicht Bestand

Ausgabe 06/2011

Fast alle Bürger haben eine klare Vorstellung über ihren gesellschaftlichen Status. Die meisten Westdeutschen fühlen sich der Mittelschicht zugehörig – in Ostdeutschland zählt sich dagegen die Mehrheit zur Unter- und Arbeiterschicht.

Fast alle Bürger haben eine klare Vorstellung über ihren gesellschaftlichen Status. Die meisten Westdeutschen fühlen sich der Mittelschicht zugehörig – in Ostdeutschland zählt sich dagegen die Mehrheit zur Unter- und Arbeiterschicht.

Die Einkommens-Mittelschicht schrumpft, Bildungschancen hängen wieder verstärkt vom Elternhaus ab, selbst unter gut Qualifizierten breitet sich Unsicherheit aus: Wissenschaftler und Medien haben in den vergangenen Jahren wiederholt auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft hingewiesen. Welche Folgen hat das für das Selbstverständnis der Bürger? Wo sehen sie ihren Platz im gesellschaftlichen Gefüge? Heinz-Herbert Noll und Stefan Weick vom GESIS Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften sind diesen Fragen nachgegangen. Die Forscher werteten die seit 1980 erhobenen Resultate der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften aus. Dabei stellen sie ein dauerhaft hohes Bewusstsein für die Schichtung der Gesellschaft fest, beobachten aber kaum Veränderungen im Gesamtbild.

Die sozialen Schichten haben sich nicht aufgelöst. Die Frage nach der Schichtzugehörigkeit wird „von nahezu allen Befragten ohne Umstände beantwortet“, berichten die Forscher. Eine große Mehrheit – in Ost wie West mindestens 96 Prozent – identifiziert sich mit einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht. „Die Resultate unterstreichen nachdrücklich, dass das Bild einer geschichteten Gesellschaft im Bewusstsein der Bevölkerung unverändert fest verankert ist und dass es zudem klare Vorstellungen über die eigene Platzierung in der Schichtstruktur gibt“, so die Studie. Dieser Befund sei bemerkenswert, weil noch in den 1980er- und 1990er-Jahren zahlreiche Sozialwissenschaftler davon ausgingen, dass Kategorien wie Schicht und Klasse sich nicht mehr zur Beschreibung der Gesellschaft eignen. Die Individualisierung, so die Annahme, befreie den Einzelnen von den Begrenzungen seiner Herkunft.

Noll und Weick halten nun fest, „dass sich die sozialen Schichten im Zuge des gesellschaftlichen Wandels keineswegs aufgelöst haben, sondern das gesellschaftliche Leben in Deutschland weiterhin maßgeblich strukturieren“. Dabei vermeiden es in Ost wie West mindestens 93 von 100 Bürgern, sich als Unter- oder Oberschicht zu klassifizieren. Sie neigen eher dazu, sich als Angehörige der Arbeiterschicht oder einer oberen Mittelschicht zu sehen. Weil die Ränder so schwach besetzt sind, haben Noll und Weick für ihre Analyse die Gruppen zusammengezogen – sie betrachten die Unter- und die Arbeiterschicht gemeinsam sowie die obere Mittelschicht und die Oberschicht.

Ostdeutsche halten sich für weniger privilegiert. Auch 20 Jahre nach der Einheit unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche in der Wahrnehmung ihres eigenen gesellschaftlichen Status’ deutlich. Die Westdeutschen stufen sich tendenziell höher ein: 2008 empfand sich mehr als jeder zweite Westdeutsche als zur Mittelschicht gehörig, nur etwa jeder dritte zur Unter- oder Arbeiterschicht. Im Osten zählte sich hingegen eine knappe Mehrheit – 51 Prozent – zur Unter- oder Arbeiterschicht. Diese Unterschiede sind weniger in harten Indikatoren wie Einkommen, Beruf, Bildung zu begründen, sagen Noll und Weick. Stattdessen dürften verschiedene Vergleichsmaßstäbe für die Einschätzung der Schichtzugehörigkeit vorliegen. Die unterschiedliche Selbstwahrnehmung hat sich seit der Einheit kaum verringert.

Im Selbstverständnis der Menschen besteht die Mittelschicht unangefochten. Vor allem im Westen ist die subjektive Einstufung über die Jahre stabil ­geblieben. Die von Einkommens-Statistikern beobachtete Schrumpfung der Mittelschicht spiegelt sich in der Wahrnehmung der eigenen Position nicht wider. „Trotz eines beachtlichen strukturellen und institutionellen Wandels hat sich die Verteilung auf die Schichten zwischen 1980 und 2008 praktisch nicht verändert“, schreiben die Forscher. Umbrüche am Arbeitsmarkt, der wirtschaftliche Strukturwandel, Zuwanderung und Bildungspolitik – all das hat die wahrgenommene gesellschaftliche Schichtung nicht umgeworfen. Dass sich die Verteilung der subjektiven Schichtzugehörigkeit als so stabil erweist, könnte laut Studie auch daran liegen, dass die Befragten die Veränderung des Bezugsrahmens mitberücksichtigen: Auch die anderen haben mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen zu kämpfen.

Beruf, Einkommen, Bildungsabschluss sind die wichtigsten Statusfaktoren. Die Faustregel der Wissenschaftler lautet: „Je höher der Bildungsabschluss, der berufliche Status und das Einkommen, desto höher ist im Allgemeinen auch die soziale Schicht, der man sich zugehörig fühlt“. Das gilt jedoch nicht für jeden Einzelfall. So verortet sich etwa die Hälfte der Hauptschüler als Teil der Unter- und Arbeiterschicht – die andere Hälfte geht davon aus, einen höheren Status zu haben. Und fast jeder sechste Befragte mit Abitur identifiziert sich mit der Unter- und Arbeiterschicht.

Auch beim Einkommen gab es durchaus unerwartete Angaben. Von den Menschen mit einem nach Haushaltsbedarf gewichteten Einkommen, das die Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent unterschreitet, sahen sich nur etwa zwei Drittel als Mitglied der Unter- und Arbeiterschicht. Ein gutes Drittel der statistisch Armen verstand sich eher als Teil der Mittelschicht. Oder die Gutverdiener, die 150 Prozent und mehr des mittleren Einkommen erhalten: Von ihnen zählen sich nur 29 Prozent zur oberen Mittel- oder zur Oberschicht. Der Rest betrachtet sich als solide Mittelschicht.

Die Herkunftsfamilie, persönliche Vergleichsmöglichkeiten und einige andere Faktoren beeinflussen ebenfalls das Statusempfinden, schreiben die Wissenschaftler. Noll und Weick untersuchen diese Faktoren bei den Personen aus der mittleren Einkommenskategorie, die 70 bis 150 Prozent des Medianeinkommens verdienen. Gut 40 Prozent der Menschen mit mittlerem Verdienst nehmen sich selbst als Angehörige der Unter- und Arbeiterschicht wahr. Die Studie zeigt, wann sich ihr Selbstverständnis zur Arbeiterschicht neigt: Das ist vor allem der Fall, wenn die Befragten als Facharbeiter oder ungelernte Arbeiter tätig und wenn sie Gewerkschaftsmitglied sind. Unterstützend für diese Auffassung ist auch, wenn der Vater ebenfalls Arbeiter war, wenn der Betreffende nicht über Wohneigentum verfügt und lediglich die Hauptschule absolviert hat.

  • In allen Berufsgruppen sind Ober-, Mittel- und Unterschicht vertreten, und fast überall ist der Anteil der Mittelschicht groß. Zur Grafik
  • Betrachtet man die Selbsteinschätzung der Bürger, dann ergibt das für Ost und West unterschiedliche Gesellschaftsbilder: im Osten eher eine Pyramide, im Westen eine Zwiebel. Zur Grafik

Heinz-Herbert Noll, Stefan Weick: Schichtzugehörigkeit nicht nur vom Einkommen bestimmt (pdf). Analysen zur subjektiven Schichteinstufung in Deutschland, in Informationsdienst Soziale Indikatoren, Ausgabe 45, Februar 2011

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